Tagebuch der Magierin Yolande Silbersaite

11. Phex 1032 BF

Früh brachen wir von Angbar aus nach Anpforten auf. In der Nähe von Anpforten lag dann auch das Kloster der Brüder und Schwestern des Ordens des Heiligen Hüters, zu den Füßen des Greifenpasses. Wir geleiteten den Luminifer Ehrwald, den Custos Lumini von Wetterau und die Medica Zähringer nach Anpforten. Dort erklärten wir, wir hätten noch eine zusätzliche Aufgabe im Kloster zu erledigen. Das reichte sowohl den beiden Würdenträgern als auch der Medica vollkommen aus. Aufgrund einer schlechten Vorahnung die er in der Nacht zuvor gehabt hatte, bat der Luminifer darum, dass Legionär Perdan bei ihm bleiben solle. Wie es sich für Anhänger des Götterfürsten geziemte, war der Wunsch des zweifach geweihten Dieners des Sonnenfürsten den Donatores Lumini von Böcklingen und Sonnenlob Befehl, so dass wir nun ohne ihn zum Kloster ritten. Gegen Mittag erreichten wir dessen Mauern. Wie mir berichtet wurde, hatte es die gleiche Architektur wie das berühmt, berüchtigte Kloster von Arras de Mott. Dort hatten die Gezeichneten verhindert, dass sich der zwölffach verfluchte Sphärenschänder grenzenlose Macht aneignen konnte.

Am Tor klopfte seine Gnaden von Böcklingen an und übernahm das Wort. Er erbat Unterkunft für mehrere Tage zum Behufe der Kontemplation beziehungsweise Meditation. Außerdem wünschte er die Klosterleitung zu sprechen. Wir wurden hereingelassen und in einen Raum geführt. Anschließend sollten wir warten. Nach einiger Zeit kam dann die Mutter Oberin des Klosters, Heiltrud Ackerknecht. Sie war so um die 30 Götterläufe alt, also für ihre Position noch recht jung, hatte sich den Kopf kahl geschoren und trug eine braune Kutte. Sie bat uns in ihr Büro.

Erneut ergriff seine Gnaden von Böcklingen das Wort. Er erläuterte, dass wir auf der heiligen Quanionsqueste unterwegs seien. Weiterhin wiederholte er seine Bitte nach Unterkunft und Verpflegung für uns für einige Tage. Auch erklärte er unsere zusätzliche Aufgabe, mit Baldur von Gratenfels zu sprechen und zeigte hierfür auch die Autorisation dessen Bruders, der rechten Hand des Heliodan, Luminifactus Pagol Greifax von Gratenfels. Die Mutter Oberin nickte und sprach dann nur: „So kommt denn!“

Sie führte uns in einen abgelegeneren Teil des Gebäudes und dort in eine etwas größere Kammer. Dort saß ein älterer Mann in einem Holzsessel und murmelte unverständlich vor sich hin. Es war eine gewisse Ähnlichkeit zum Wahrer der Ordnung zu erkennen. Seine Hände waren an den Lehnen fixiert. Haare und Bart waren sehr lang und wild. Seine Gnaden Sonnenlob regte sich zunächst sehr über den Zustand der Haare auf, dass der gute Mann scheinbar keinerlei Pflege erhielt. Der Vorwurf, den großen Bruder des Wahrers der Ordnung verwahrlosen zu lassen, ließ die Mutter Oberin nicht auf sich sitzen:

„Versucht doch einmal selbst, euch ihm mit einer Schere oder einem Rasiermesser zu nähern. Sobald ihr dicht genug an ihm dran seid, wirft er sich aus Leibeskräften hin und her, schreit laut und windet sich. Vergesst es einfach! Das Risiko, ihn dabei zu verletzen ist viel zu groß!“

Ansonsten würde er gut gepflegt: Jeden Tag würde sich jemand dergestalt um ihn kümmern, dass er ein wenig Bewegung bekam. Somit würden sich seine Muskeln nicht vollständig zurückbilden; ergo blieb er bei guter körperlicher Gesundheit. Auch wurde er gewaschen, gefüttert und auf seine Körperfunktionen Rücksicht genommen. Zudem würde er zur Nachtruhe in einem Bett so fixiert, dass er sich auch selbständig drehen konnte, um nicht wund zu liegen. Von keiner Pflege könne also überhaupt keine Rede sein. Und ich musste ihr dahingehend zustimmen – er sah nicht verwahrlost, schmutzig oder gar verwundet aus.

Vor ein paar Monaten war er von seinem Bruder hierher gebracht und zu seinem eigenen Besten dem Kloster in Obhut gegeben worden. Die Fixierung geschehe zu seinem eigenen Schutz. Sein Geisteszustand wechselte immer wieder von fast klar zu abwesend oder vollkommen wahnhaft; dies jedoch nicht im Minutentakt. Während seiner Warnung, wegen der wir tatsächlich hier waren, schien sich sein Geisteszustand in einer besseren Phase zu befinden. Adeptus von Schneehag erkundigte sich nach magischer Besessenheit oder einem Einflusszauber. „Das haben wir untersucht“, erwiderte die Mutter Oberin. „Die Untersuchung war jedoch ohne Befund“
 
Seine Gnaden von Böcklingen sprach dann einen Harmoniesegen auf den ehemaligen Grafen. Der wurde ruhiger und schien dann tatsächlich im Hier und Jetzt zu sein. Nachdem er ihm weiter gut zuredete, sprach dann von Gratenfels ein paar Dinge, die wir noch nicht kannten:

„Im Wald zwischen Bergen und See, eine Höhle tief im Berg, wo man den Quell des Flusses kaum noch hören kann. Ihr müsst sie finden! Haupt der Eule, das die Höhle behütet. Sie ist schon alt!“

Von Böcklingen fragte zurück: „Ist die Eule ein Vogel oder ein Mensch?“ – „Das weiß ich nicht!“
„Was sollen wir tun bei der Eule?“ Darauf sprach von Gratenfels erneut die Warnung, die wir schon kannten: „Alter Mann, älter als ich. In Finsternis fiel er, tiefer als die Nacht, die mich plagt. Alte Frau. Hüterin des Lichts. Freund und Feind belügt sie, um das Rechte zu tun. Alter Feind. Güldene Faust hämmert an güldene Mauern. Wenn das Jahr endet, erlischt das Licht!“

Von Böcklingen versuchte es erneut: „Ist die Eule eine alte Frau?“ – „Weiß ich nicht!“
„Wo ist der Berg?“ – „Es muss in der Nähe sein. Hier in der Nähe. Eine Höhle zwischen Bergen und See, in der Nähe eines Flusses“

Die Mutter Oberin war sichtlich überrascht, denn bisher hatte der Patient lediglich die bekannte Warnung mit den Worten „Alter Mann…“ von sich gegeben. Sie sagte, dass er in exakt diesem Zustand seit seiner Ankunft war. Adeptus von Schneehag vergewisserte sich noch, dass die Worte von Gratenfels‘ weiter mitgeschrieben würden, sollten zu den bekannten wieder neue Warnungen oder dergleichen hinzu kommen. Dann verließen wir den Verwirrten und begutachteten zunächst die vorhandenen Karten der Umgebung. Mit dem Fluss konnte eigentlich nur die Sindel gemeint sein. Sie entspringt in den Bergen der Umgebung und fließt direkt in den Angbarer See.

Adeptus von Schneehag suchte den örtlichen Jagdmeister auf und fragte ihn zu dieser Beschreibung. Der Mann musste uns von der Göttin Hesinde selbst gesandt worden sein, denn er entpuppte sich als eine wahre Quelle der Erkenntnis! Dieser antwortete, die Beschreibung deute auf eine Klamm in der Nähe der Sindelquelle hin. Am Ende der Klamm sei eine Höhle. Die Leute würden diesen Ort meiden, denn, so hieße es, dort sei es nicht geheuer! Wohlmöglich spukte es dort! Von Schneehag fragte ihn weiter nach einer Landmarke in Form einer Eule oder etwas ähnlichem in dieser Gegend, was mit einer Eule zu tun hat, und erhielt zur Antwort, dass hier im Umkreis, in der Nähe von Trottweiler eine Frau Eulenhaupt lebte.

Eine interessante Information, doch zwischen der Behausung der Frau Eulenhaupt und der Höhle lag eine Reise von grob einem Tag. Hin und zurück zur Höhle wäre nämlich auch an einem Tag machbar, wenn man sich dort nur zwischen einer halben und einer Stunde umgucken wollte. Ergo rechneten wir mit einer Anreise von einem Tag, da immerhin noch Schnee lag. Da der gute Jagdmeister die Frage bejahte, ob er uns zur Klamm führen wolle, rechneten wir mit zwei Tagen für Hin- und Rückreise und einem Aufenthalt ebenfalls von einem Tag. Mit einer eingerechneten Sicherheit beauftragten wir ihn dann, einen Packesel mit einem Proviant von einer Woche für sich und fünf weitere Personen bis morgen zu organisieren. Beim ersten Hahnenschrei wollten wir aufbrechen.

Wir informierten noch die Medica und unsere hohe praiotische Begleitung, dass wir eine Exkursion unternähmen. Adeptus von Schneehag machte zuvor deutlich klar, dass er die Medica nicht dabei haben wollte. An dieser Stelle hakte seine Gnaden Sonnenlob deutlich nach dem Grund nach. „Überleg mal“, führte von Schneehag aus. „Erstens mal haben wir eine magische Heilerin, was wollen wir also mit der? Außerdem… sie hat sich erfolgreich gegen diese fünf, sechs Typen zur Wehr gesetzt, keine Ahnung wie lange. Dabei hätten die sie ohne viel Mühe zur Seite schaffen können. Und zufällig, als wir auftauchten, blieb noch genug Zeit, um nach Hilfe zu rufen. Ich sage dir: Irgendwas stimmt mit der nicht! Ich habe sie mal magisch untersucht, und sie hat eine magische Aura.“ Von Böcklingen war beeindruckt: „Oha! Wie stark?“ – „Nicht so stark wie ich, erst recht nicht wie“, er deutete auf mich, „sie. Also keine ausgebildete Vollmagierin. Wahrscheinlich eine Scharlatanin, eine Magiedilettantin oder so“

Ich hätte empört sein müssen über einen derartigen Bruch des Codex Albyricus! Wenn ich jedoch an etliche Erlebnisse zurückdachte, konnte ich sein Verhalten nur gutheißen. Zu häufig hatte es bereits Widersacher gegeben, die andere Dinge vorgaben, als sie tatsächlich waren. Wenn ich alleine an den Nishkakat denke – ohne heimliche karmale Analyse durch Hesindian wäre der vermeintliche Kobold unser Untergang gewesen!

12. Phex 1032 BF
Seitdem ich die Rune der Bärenkraft in Festum erhalten habe, versorge ich sie regelmäßig mit frischem Blut. Durch die Erfahrungen auf der Expedition zu Fuldigor kann ich zudem meine Sachen sehr effizient packen. Und durch diese Bärenrune noch deutlich mehr, als man mir gemeinhin ansah. Dementsprechend verdattert waren auch meine Reisegefährten – allen voran der Jagdmeister – als ich nicht nur mit einen gut gepackten Rucksack erschien, sondern dieser auch noch recht groß war und ich auch nach zwei Stunden deutlich weniger außer Atem war als der Rest meiner Gruppe.

Das zog Rückfragen nach sich. Ich erwiderte knapp, dass ich bereits Erfahrungen im Gebirge gesammelt hätte. Die Frage, welche Gebirge, beantwortete ich wahrheitsgemäß mit dem Ehernen Schwert und dass ich auch schon in Drakonia gewesen sei. Die werden mir das ohnehin nicht glauben, dachte ich bei mir. Und natürlich erhob sich zunächst Gelächter. Dann fiel den Männern auf, dass ich ernst blieb und das Gelächter mich nicht störte, ich wusste ja selbst, wie fantastisch das klang! Zudem ich für mein wirklich junges Alter schon deutlich mehr erlebt hatte als die meisten Aventurier, die drei Mal so alt waren wie ich.

Und tatsächlich war das auch die nächste Frage: „Aber“, warf mein hoch geschätzter Collega ein, „ihr seid doch noch so jung. Da müsstet ihr doch noch in der Akademie gewesen sein!“ – „Ich bin die jüngste Abgängerin der Akademie Norburg“. Damit dachte ich, hätte ich ihre Neugierde gestillt. Ha! Weit gefehlt!

„Da habt ihr bestimmt so einiges an Geschichten darüber zu erzählen“, sprach seine Gnaden von Sturmfels. „Könntet ihr das nicht bei der nächsten Rast tun?“ Ich überlegte kurz. Unsere Expedition startete erst im Rahja 1033, also in etwas über einem Jahr. Wenn ich jetzt davon erzählte, konnte ich leicht das Zeitgefüge durcheinander bringen. Zumal ich auch noch kein Vertrauen darin hatte, dass ich nicht als Zeitfrevlerin von meiner Gruppe sofort verbrannt werden würde! „Tut mir Leid!“, erwiderte ich, „aber darüber darf ich momentan leider nicht sprechen!“ Meine Gefährten waren zwar enttäuscht, akzeptierten aber diesen Grund. Sie werden es überleben, dachte ich. In zwei Jahren erzähle ich das vielleicht!

Doch schon hatte seine Gnaden von Sturmfels die nächste neugierige Frage auf den Lippen: „Wie kommt es, dass ihr bei diesem Rucksack noch so gut bei Kräften seid?“ – „Nun, ich trage eine thorwalsche Rune, die mich dabei magisch unterstützt. Ich habe sie mir im Zuge der Vorbereitung auf die Reise ins Eherne Schwert in Festum zulegt. Es handelt sich um ein Hautbild, das ähnlich der Zauberzeichen magische Effekte verursacht.“ Von Schneehag fragte: „Oh, ein Attributo-Cantus also?“ – „Nicht so ganz“, antwortete ich, „die Rune erhöht ausschließlich die Tragkraft. Sie wäre also am ehesten mit einem sehr spezialisierten Attributo zu vergleichen“ – „Könntet ihr die Rune bei der nächsten Rast vielleicht einmal zeigen?“ Ich schmunzelte. „Aber sicher, kein Problem!“

Zur Mittagsrast war es dann soweit. Ich hätte Eintritt nehmen können, meine Gefährten hätten wahrscheinlich jeden Preis gezahlt, zumindest machten sie den Eindruck! Als ich den Mantel abnahm, waren sie dermaßen gespannt, dass ein unbedarfter Beobachter leicht zu dem Schluss hätte kommen können, ich entledigte mich auch meiner restlichen Kleidung. Aber natürlich krempelte ich nur den linken Ärmel meiner Robe hoch. Adeptus von Schneehag war so begeistert, dass er um Erlaubnis fragte, das gesamte Hautbild abzeichnen zu dürfen. „Generell habe ich kein Problem damit; jedoch möchte ich nicht stundenlang in dieser Haltung hier sitzen.“ Von Schneehag versicherte mir, es würde eher im Rahmen einer halben Stunde dauern, und er würde das Hautbild auch nicht jetzt sofort abzeichnen wollen.

Seine Gnaden Sonnenlob stellte nun eine wilde Vermutung an: „Das bedeutet. Ihr fühlt euch hier draußen sehr wohl und seid durch euer Gepäck nicht unterzukriegen!“ – „Nein, das ist so nicht richtig!“, korrigierte ich ihn. „Wir haben Winter. Schnee und Eis, das ist mein Gegenelement. Ich bin sehr dem Humus zugewandt.“ Während seine Gnaden Sonnenlob nickte, runzelte von Sturmfels die Stirn. „Könnt ihr das mal so sagen, dass ich das auch verstehe?“ – „Ja“, erwiderte ich, „wie Feuer und Wasser!“ Adeptus von Schneehag führte das genauer aus: „Sieh mal, sie ist dem Humus sehr zugewandt. Wofür steht Humus? Leben, Wachstum, richtig?“ Seine Gnaden nickte. „Und der Winter bringt Schnee und Eis. Was macht das mit Leben?“ Jetzt verstand auch der Rondrageweihte. „Es tötet Leben. Jetzt verstehe ich es!“

Nach der Mittagspause erreichten wir die Klamm, ein fröhliches Wanderlied auf den Lippen. Seine Gnaden Sonnenlob hatte den Vorschlag gemacht und war auch sehr enthusiastisch dabei, also laut! Zumindest traf er die Töne, auch wenn er sie nicht halten konnte. Am Rande der Klamm blieb der Jagdmeister stehen. „Ich habe gesagt, ich führe euch bis zur Klamm. Die Höhle findet ihr an ihrem Ende; ihr könnt sie nicht verfehlen! Ich aber bleibe hier draußen.“ Das Gerede um Spuk hatte offensichtlich auch bei ihm seine Wirkung nicht verfehlt! Er blieb außerhalb der Klamm und behielt den Packesel bei sich.

Wir betraten also alleine die Klamm. Eine unheimliche Stille empfing uns; selbst der Gesang seiner Gnaden Sonnenlob schien von den Wänden verschluckt zu werden. Ich nahm einen leichten Modergeruch wahr, gemischt mit dem Geruch nach süßlichen Gewürzen; insgesamt eine wirklich widerliche Mischung! Dem Geruch nach fielen Pflanzen wie Fleisch der Verwesung hier anheim. Pfui Daimonel! Auch von Schneehag hatte den Geruch wahrgenommen und machte unsere Gefährten darauf aufmerksam: „Hier stimmt etwas nicht! Der Geruch von Verwesung liegt in der Luft!“

Ihre Gnaden von Sturmfels und Sonnenlob legten die Schilde an und bildeten einen provisorischen Schutzwall, der gewissenmaßen vor uns her lief. Das hielt Sonnenlob nicht davon ab, seinen Gesang wieder aufzunehmen. Etwa zehn Schritt von der Höhle entfernt war es wieder von Schneehag, der ausrief: „Kameraden halt! Da vorne habe ich eine Bewegung gesehen!“ Nun waren wir alle sehr angespannt. „Odem!“, intonierte von Schneehag einen Cantus. Nach einem Augenblick, der mir in diesem Moment wie Jahre erschien, sagte er dann: „Da kommt eine extrem starke Magiesignatur aus der Höhle“

Vom Eingang der Höhle hörten wir nun eine recht dünne Stimme fragen: „Wer seid ihr?“
Seine Gnaden von Sturmfels stellte zunächst sich selbst vor. „Seid ihr die Frau Eulenhaupt?“ Sie zögerte etwas. „Ähm… Ja?“ Er entspannte sich und sprach: „Keine Angst, ihr habt nichts zu befürchten!“ Jetzt mischte sich Sonnenlob etwas ungeschickt ein: „Es sei denn, ihr benutzt schändliche Magie oder Hexenkräfte gegen uns, dann…“ An dieser Stelle wurde er glücklicherweise durch Collega von Schneehag daran gehindert, seine Drohungen weiter auszuführen!

Nun stellte seine Gnaden von Sturmfels uns der Reihe nach vor und erklärte, dass wir wegen einer Prophezeiung beziehungsweise einer Warnung gekommen seien. Da trat die Frau aus der Höhle. Sie war deutlich alt; sie hätte Ardos Großmutter sein können. Auf ihrer Schulter saß ein Kauz. „Ich bin Madrete Eulenhaupt“ Wieder sprach von Schneehag kurzerhand einen Odem und stellte fest, dass sie in etwa so magisch war wie wir beide. Das verkündete er danach.

Jetzt ergriff seine Gnaden von Böcklingen das Wort und fasste das „Gespräch“ mit Baldur Greifax von Gratenfels zusammen. Sie erklärte, dass sie den Mann nicht kannte; wohl auch noch nie von ihm gehört hatte. „Ich hatte schon befürchtet, ihr seid von der Inquisition!“ – „Nein, keine Sorge! Die Inquisitoren sind manchmal ein wenig, nun sagen wir übereifrig“ – „Ja, vor einiger Zeit gab es hier Aktivitäten der Inquisition, die zusammen mit Kriegern des Bannstrahl Praios in einem Zug der Sonne Krieg über die Hexen des Düsterwaldes gebracht hatten. Und wenn die sehen würden, worüber ich hier wache, würden sie es wohl ganz falsch verstehen“ Das machte wieder seine Gnaden Sonnenlob aufmerksam. „Was bewacht ihr denn? Können wir das mal sehen?“ Sie bedeutete uns, mit ihr in die Höhle zu gehen.

Der Gestank kam ganz eindeutig von hier! Nach grob zwanzig Schritt erweiterte sich der Gang in eine fast kreisrunde Grotte von etwa acht Schritt Durchmesser. Die Grotte war mit Fackeln beleuchtet, die Wände mit Echsenfratzen, Drachen und ähnlichem verziert. In der Mitte befand sich ein Steinbecken; in diesem befand sich eine grüne Flüssigkeit. In der Flüssigkeit lag ein nackter alter Mann und schlief. Er schien offenbar unter ziemlich schweren Alpträumen zu leiden – immer wieder verzog er das Gesicht oder warf sich hin und her. Im Becken schwammen vereinzelte Hautstückchen umher; die Haut des Mannes war jedoch glatt und straff.

„Als die Inquisitoren hier angebliche finstere Umtriebe untersuchten, versteckte ich mich in dieser Höhle. Und fand ihn hier!“ Sie zeigte auf eine Inquisitorenrobe und ein Sonnenszepter neben dem Becken. „Und das hier hätten sie mit Sicherheit falsch gedeutet!“ Ja, da musste ich ihr Recht geben! Das konnte auf den ersten Blick so aussehen, als sei die Frau schuld am Zustand des Inquisitors. „Dabei“, so fuhr sie fort, „habe ich ihn in dem Zustand gefunden und ihn versucht, mit den Kräutern zu stärken, die ich immer wieder ins Becken gebe. Den anderen Hexen meines Zirkels konnte ich ob der Erfahrungen mit der Inquisition auch nicht von meinem Fund berichten. Denn dann wäre es wohl um das Leben dieses Mannes geschehen gewesen“. Ah! Freund und Feind belügt sie, um das Rechte zu tun.

Seine Gnaden Sonnenlob fragte: „Warum habt ihr ihn nicht geweckt?“ Noch bevor sie darauf antworten konnte, redete von Sturmfels dazwischen: „Wahrscheinlich wusste sie nicht wie: Sumyrdalun!“ Nichts geschah. Wegen der Alpträume hatte sich Frau Eulenhaupt nicht getraut, den Mann zu wecken.

Ich beschloss, das Ganze magisch zu untersuchen. Nach einem Odem ließ ich mir für die Analyse deutlich Zeit. Grob eine Stunde später waren mindestens genauso viele neue Fragen aufgetaucht wie alte gelöst:

Ad Primum: Die Magie steckte in der Flüssigkeit und war ausgesprochen stark. Das musste die magische Aura sein, die von Schneehag vor der Höhle bereits bemerkt hatte.
Ad Secundum: Ich konnte die Merkmale Form, Einfluss und Temporalmagie ausmachen.
Ad Tertium: Die Matrix war ganz eindeutig drachischer Natur.
Ad Quartum: Diese Kombination wurde von zwei sehr kleinen Kraftlinien gespeist, die sich oberhalb des Beckens in einem ebenso kleinen Knotenpunkt verbanden und dann durch die Flüssigkeit gingen.

Ich teilte meinen Gefährten meine Erkenntnisse mit. Natürlich gab es wieder etliche Rückfragen: „Warum kennt ihr die drachische Repräsentation?“, war die eine. Ich konnte darauf nur antworten: „Ich habe schon die Matrizen einiger Sprüche gesehen, die von Drachen gezaubert wurden“ Und von Sturmfels fragte: „Was sind Kraftlinien? Was meint ihr mit Knotenpunkt? Könntet ihr das vielleicht so ausdrücken, dass ich es auch verstehe?“ – „Stellt es euch wie zwei kleine Rinnsale aus Wasser vor, die sich zu einem Bächlein vereinen. Dieses Bächlein liefert die magische Energie für den Zauber im Becken“. Seine Gnaden von Böcklingen wandte sich wieder an Frau Eulenhaupt: „Wann habt ihr ihn denn gefunden?“ – „Das ist jetzt zwischen einem und zwei Monaten her“. Sie hatte gehofft, dass ihn die heilkräftigen Kräuter soweit wieder stärken würden, dass er von selbst die Alpträume überwinden könnte.

Wir beratschlagten, was nun zu tun sei. Schlussendlich hatte sie Recht – jemanden aus einem Alptraum zu wecken, konnte unangenehme Folgen haben. Auf magische Art konnte man sich ihm in seinem Traum anschließen und dadurch helfen. Jedoch kann so etwas auch deutliche Spuren bei demjenigen hinterlassen, der sich dem Traum anschließt. Meinen Gefährten, insbesondere von Schneehag, war es nicht wohl dabei sich einfach in den Traum zu begeben, ohne dass jemand über ihre schlafenden Körper wachte. Die Hexe konnte schließlich auch trotz ihres bisherigen Verhaltens ein falsches Spiel mit uns treiben. Obwohl hier vieles dafür sprach, dass die Warnung des Bruders der Wahrer der Ordnung göttlich inspiriert wurde, war aber auch mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken, unbewacht in der Höhle zu liegen. Nachdem unser Sonnenlegionär Perdan bei den beiden Geweihten und der Medica geblieben war, konnte mein gutes Zureden den Jagdmeister überzeugen uns zu bewachen, solange wir uns im Traum des alten Mannes im Becken befanden. Wir anderen würden dem Alten in seinem Traum beistehen.

Nacheinander sprachen nun zuerst ihre Gnaden von Böcklingen einen Harmoniesegen, dann Sonnenlob einen Weisheitssegen und schließlich von Sturmfels eine Segnung der stählernen Stirn. Am Ende sprach ich noch einen Attributo-Cantus auf den Collega von Schneehag für sein Charisma. Derart gestärkt legten wir uns zur Ruhe. Adeptus von Schneehag intonierte noch seinen Cantus, dann glitten wir in die Traumwelt ab.

Wir erwachten auf einer weiten Ebene, die von tiefen Rissen durchzogen war. Der Himmel war bleigrau und wolkenverhangen, überall lagen Steine, kleine und große Felsen herum. Hinter uns war in einiger Entfernung eine große Wand zu sehen. Ich blickte mich um. Seine Gnaden von Sturmfels hatte neben seinem normalen Schwert seinen Schild dabei; selbst sein Zweihandschwert war auf seinem Rücken. Auch der Rest der Gruppe sah ein bisschen besser aus, als ich sie vor dem Einschlafen gesehen hatte. Natürlich, durchzuckte es mich, das ist ein Traum, und den können wir bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, so zum Beispiel, was wir uns wünschten. Und ich musste zugeben, dass ich mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher als Ardo herbei wünschte. Für einen kurzen Moment flirrte daraufhin die Luft, aber weiter geschah nichts.

Noch während wir uns umsahen, bemerkten wir, dass sich die Spalten in Größe und Position immer mal wieder änderten. Seine Gnaden Sonnenlob wackelte erheblich, als er mit dem Fuß in eine geriet, wurde jedoch schnell von seiner Gnaden von Böcklingen gehalten und auf festes Gelände gezogen.

Ganz in der Nähe hörten wir plötzlich Kampfeslärm. Wir eilten hinter den nächsten Felsen, wobei die beiden Praioten den Felsen von links umrundeten, seine Gnaden von Sturmfels und ich von rechts. Adeptus von Schneehag wollte mit einem gewaltigen Satz über den gut fünf Schritt hohen Felsen springen, stellte jedoch genau wie ich fest, dass unsere Fähigkeiten, den Traum zu manipulieren, arg begrenzt waren.

Auf der anderen Seite vom Felsen sahen wir einen Sonnenlegionär, relativ jung, jedoch ein wenig älter als ich. Ich hätte ihn als „gut in Schuss“ bezeichnet. Er sah dem Mann im Becken deutlich ähnlich. Er war gerade dabei, gegen sechs Untiere zu kämpfen – Gestalten, die an einen Maru, einen Drachen, eine aufrecht gehende Schlange, einen Skorpion, eine Spinne und eine Schnecke erinnerten. Doch alle waren grotesk verzerrt und hatten mit ihren natürlichen Vorbildern nicht mehr allzu viel gemein. Die Schnecke war beispielsweise eine Chimäre mit dem Körper eines Mannes, der mit einem Schneckenfuß verbunden war. Jeder von uns stellte sich einem Monster: von Böcklingen nahm den Drachen, von Sturmfels die Schlange, von Schneehag den Skorpion, Sonnenlob den Maru und ich die Spinne.

Während von Böcklingen und von Sturmfels den Kampf direkt aufnahmen, wirkte von Schneehag erst einmal einen Armatrutz auf sich, in seinen Händen beziehungsweise Armen erschienen Schwert und Schild. Ich konzentrierte mich auf die Kraft des Humus und spürte, wie sich meine Haut verhärtete. Sonnenlob hatte seinen Gegner mit einem einzigen Hieb seiner Ochsenherde buchstäblich in Wohlgefallen aufgelöst und sah sich um. „Sie verholzen die Maga!“ Mit diesen Worten rannte er auf die Spinne zu und hieb nach ihr. Doch diese konzentrierte sich jetzt auf den deutlich gefährlicheren Gegner, also ihn, und blockte den Hieb.

Adeptus von Schneehag wirkte nun einen Fulminictus-Cantus auf den Skorpion. Der hatte diesem Angriff nichts entgegenzusetzen und verschwand. Seine Gnaden von Sturmfels hatte seinen Gegner ebenfalls bereits erledigt. Er sah, dass die Schneckenchimäre ihren Gegner zu Boden gestoßen hatte und preschte mit einem Sturmangriff zwischen die Alptraumkreatur und ihr vermeintliches Opfer. Diesem Hieb war auch die Chimäre nicht gewachsen, so verschwand auch diese.

Seine Gnaden Sonnenlob war inzwischen gestürzt; die Situation sah bedrohlich aus. Doch dann passierte etwas schier Unglaubliches: Die Spinnenkreatur geriet ins Stolpern und landete unbeabsichtigt auf dem nach oben stehenden Sonnenszepter seiner Gnaden Sonnenlob. Die Wucht des Aufpralls ließ auch die Spinne im Nichts verschwinden, als wäre sie nie da gewesen. Jetzt, wo die Gefahr praktisch vorüber war ließ ich vor den Augen seiner Gnaden Sonnenlob und Adeptus von Schneehag meinen Haut des Humus-Spruch wieder fallen. Dann erklärte ich ihnen, dass es sich um eine Humusfähigkeit handelte und entschuldigte ich mich, so etwas nicht zuvor erwähnt zu haben. Mittlerweile hatte auch seine Gnaden von Böcklingen sich seines Gegners entledigt.

Der Sonnenlegionär war ziemlich außer Atem. „Habt Dank! Seid vielmals bedankt! Doch ich fürchte, das wird nicht viel helfen. Sie werden bald wieder kommen. Sie kommen immer wieder!“ Dann wollte er sich abwenden, besann sich aber eines Besseren: „Ich bin übrigens Do“. Nun stellten auch wir uns vor. Do berichtete uns, in der Nähe der Portale hätte er einen alten Mann gesehen. Wir baten ihn, uns dorthin zu führen.

Auf dem Weg konnten wir in den Schatten immer wieder Bewegungen ausmachen, jedoch wurden wir nicht mehr angegriffen. Schließlich erreichten wir einen kleinen Hügel. Oben stand ein uralter Mann in einer weißen Kutte. Auch er sah dem Mann im Becken sehr, sehr ähnlich. Das war jetzt nicht allzu überraschend. Wir gingen zu ihm hinauf.

Seine Gnaden von Sturmfels fiel gleich mit der Tür ins Haus: „Wir haben die Ungeheuer vernichtet. Doch es scheint eine Wurzel all dieses Übels zu geben. Was und wo ist das?“ Der Alte sah ihn erst einmal verblüfft an, sprachlos. „Ach verzeiht! Ich bin Ulfried Rondrian von Sturmfels, Knappe der Göttin. Dies sind meine Gefährten...“ Dann stellte er uns kurz einzeln vor. Der Alte nickte jedem zu und erwiderte dann: „Ich bin La.“

Na großartig! Do, La, welche Silben erwarteten uns noch? Entweder waren das die Silben seines Namens oder die Silben ergaben die Wurzel allen Übels, damit es der gute Mann von selbst erkennen konnte. „Alter Mann, älter als ich. In Finsternis fiel er, tiefer als die Nacht, die mich plagt.“ Selten war eine prophetische Warnung dermaßen eindeutig!

Do herrschte ihn von unten an: „Alter Feigling! Komm da runter!“ La rührte sich um keinen Fingerbreit. Erst nach einigem guten Zureden begleitete er uns nach unten. Wir hofften, dass die beiden Teile seiner Persönlichkeit sich vereinigen würden und ließen sie sich daher die Hand geben. Doch nichts geschah. Schade! Hier und da waren sie sich aber durchaus einig. Als wir zum Beispiel fragten, wie sie denn Magie einschätzten, war die einstimmige Antwort: „Wo sie schädlich ist, ist Magie zu vernichten. Wo sie dem Herrn Praios wohlgefällig ist, dort ist sie zu akzeptieren.“ La berichtete von Portalen „an der Wand dort hinten“. Also suchten wir diese als nächstes auf. Auf dem Weg schlichen weiterhin die Kreaturen um uns herum, doch sie wagten es nicht, uns anzugreifen.

Wir erreichten die Portale. Eines war eine prunkvolle Flügeltür mit einem Wappen, das zweite ein marmornes Tempeltor und das letzte eine stählerne Kerkertür. Die Tür mit dem Wappen war vermutlich seine Herkunft, das Tempeltor seine Bestimmung und im Kerker lauerten seine dunklen Geheimnisse, seine Sünden oder das, was er als solche ansah.

Das Wappen selbst war eine Schildform mit etwas Gezeichnetem drin. Halt ein Wappen! Als meine Gefährten sich das Wappen ansahen, meinten sie es käme aus dem Almadanischen, woher sie das auch immer wussten. Vielleicht hatte es etwas mit den Farben zu tun. Adeptus von Schneehag fragte La mehrfach nach dem Familiennamen, zu dem das Wappen gehörte. Dieser sagte zwar etwas, bewegte jedoch nur stumm seine Lippen, wie unter einem Silentium. Und ich möchte wetten, hätte jemand die Lippen gelesen, so wäre nur Kauderwelsch dabei herausgekommen! Das Schicksal duldete keine Abkürzungen!

Seine Gnaden Sonnenlob öffnete zunächst die Kerkertür und sah hindurch. Eine Treppe führte hinunter in ein feuchtes Kellergewölbe. Unten sah man hinter einer Kurve den Schein mehrerer Laternen. Man hörte Stimmen und das Geklapper von Würfeln. Wir nickten uns gegenseitig zu und gingen leise die Treppe hinunter.

Hinter der Kurve saßen an einem Tisch vier Gardisten, die in ihr Würfelspiel vertieft waren und dabei ordentlich becherten. Jeder von ihnen trug einen Wappenrock mit einem Wappen aus Mengbilla, wie mir meine Gefährten verrieten. Seine Gnaden Sonnenlob holte scharf Luft: „Dort ist der Praiosglaube bei Strafe verboten!“

Gemeinsam schritten wir in die Wachstube. Adeptus von Schneehag verkündete mit fester Stimme: „Legt die Waffen nieder, so sollt ihr leben!“ Wie nicht anders zu erwarten, taten die Wachen das genaue Gegenteil und griffen zu ihren Kurzschwertern. Unsere Kämpfer nahmen gemeinsam mit Do den Kampf eins gegen eins an. Nach wenigen Augenblicken hatten meine Gefährten jeweils ihren Gegner überwunden. Seine Gnaden von Sturmfels rief dem Letzten seinen Überlebenswillen ins Gedächtnis: „Ist es dir das wirklich wert? Ergib dich jetzt!“ Und nach dem Befehl seiner Gnaden von Böcklingen „Lass die Gefangenen frei!“, öffnete er auch tatsächlich alle Zellen. Heraus trat ein einzelner Gefangener, der sichtlich mitgenommen war. Er war von mehr als einer Spur der Folter gezeichnet. Überschwänglich und enthusiastisch dankte er uns: „Der Herr Praios muss euch geschickt haben!“ Sein Name war WAN.

WAN – DO – LA… Wir brauchten auf jeden Fall noch die letzten beiden Silben!