Aus dem Tagebuch der Magierin Yolande Silbersaite

3. Peraine 1032 BF

Um diese Jahreszeit ist die Gegend reichlich unwirtlich – noch immer liegt Schnee, was bedeutet, dass ich leider nicht draußen schlafen kann. Dabei wäre der Bergwald im Frühling bestimmt sehr einladend. Auf der anderen Seite würde so etwas besonders hier doch sehr viel unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dem Herrn Vogt, so sehr er den Geboten des Herrn Praios doch bis in die Buchstaben folgt, offenbart sich nicht, dass es auch unser Herr höchstselbst ist, der in Seiner Weisheit entscheidet, wem er den Zugang zu Madas Frevel gewährt, auf dass diese Tat doch gute und gerechte Folgen haben solle. Er ähnelt doch arg dem Abziehbild einer Praiotin, das meine Mutter immer in meiner Erziehung spielte. Offenbar spielte sie diese Rolle tatsächlich recht gut, so klischeehaft das auch gewesen sein mag.

Wie dem auch sei, nach der Nachtruhe versammelten wir uns noch vor der Morgenandacht zum Tanz der Mada, um nach der Andacht das Frühstück einzunehmen. Dabei wurden wir von einer Pagin bedient, etwa 16 Götterläufe alt. Ein schmuckes Mädel in einer beeindruckend guten Pagenuniform. Sehr hochwertig! Tankred fiel außerdem eine Ähnlichkeit zu Roana auf, was er uns später mitteilte. Seine Gnaden Sonnenlob fragte sie interessiert nach ihrem Namen und ihren Aufgaben. Sie hieß Talina und war Pagin im Haushalt des Vogts; später wollte sie sich in den Dienst als Kriegerin für die Ordnung stellen.

Gegen Ende des Frühstücks fragten wir dann den Vogt, ob wir den Gefangenen befragen durften. Wir erhielten die Erlaubnis. Nach dem Frühstück brachte uns Talina in den Keller hinunter zum Kerker. Der Gefangene, sein Name war Egbert, saß auf einem Strohlager und wurde gerade von einer Wundheilerin verarztet. Ihr Name war Gundeline. Sie war um die 50 und recht sachkundig: Sie achtete darauf, dass die Wunden sauber waren und verband ihren Patienten recht geschickt.

Als seine Gnaden Sonnenlob erklärte, warum wir dort waren und die Worte „verräterischer Aufstand“ nutzte, verfinsterte sich kurz ihre Miene. Als sie Egbert fertig verbunden hatten, packte sie ihre Sachen zusammen. Seine Gnaden Sonnenlob hatte sich währenddessen bereits vor diesem aufgebaut und mit der Befragung begonnen.

„Was geschah gestern Abend?“
Egbert erklärte, der Protest gestern Abend sei absolut gerechtfertigt gewesen. Wenn eine Praiosgeweihte ungerechte Dinge ausspricht, bleiben sie ungerecht, ungeachtet ihres Standes. Er sah Roana völlig im Recht. Nach seinen Worten war sie von ihrem Vater vertrieben worden, daher unterstütze er sie gegen den herzlosen Vogt, der die Baronie ausbluten ließe.

„Worauf fußen diese Anschuldigungen?“
Egberts Antwort war hier, die Leute würden für dumm gehalten und ausgebeutet werden. Die Abgaben seien Spenden für Soldaten, während das Volk Hunger leide. „Dieser Tyrann“, so Egbert, verstoße gegen seine Pflichten, für die ihm Anvertrauten, also seine Untertanen, zu sorgen. Das wären auch Celios Worte. Seine Gnaden hätte Roana die Augen geöffnet.

Hier hakte seine Gnaden Sonnenlob nach: „Sind denn schon Leute verhungert?“ – „Noch nicht, aber es geht allen Leuten viel schlechter als früher!“ Der Punkt ging an Egbert – bei dem, was wir bisher über die Versorgungslage gehört hatten, würden mich die ersten Hungertoten nicht mehr wundern.

Seine Gnaden Sonnenlob fasste zusammen, der Herr sei im Recht, aber wohl eher nicht gerecht. Egbert protestierte: „Das Recht muss doch gerecht sein! Das sagt auch seine Gnaden!“ Das war ein Punkt, über den wir auch schon in kleiner Gefährtenrunde lebhaft und kontrovers diskutiert hatten. Inzwischen hatte Gundeline den Kerker verlassen. Auch Talina war nicht zu entdecken. Tankred fragte daher: „Ihr kennt doch Talina? Wer sind denn ihre Eltern?“ Egbert bestätigte Tankreds Verdacht: Gundeline war die Mutter von Talina. Wer der Vater war, wusste er jedoch nicht.

Nun übernahm seine Gnaden von Böckling, der die wichtigste Frage geklärt wissen wollte: „Wo ist Roana?“ – „Das weiß ich nicht!“ Ja, nee, ist klar! Als ich etwas säuerlich ob dieser Antwort zu Tankred rüber sah, formten seine Lippen stumm das Wort „Bannbaladin?“. Ich grinste und nickte kurz. Tankred machte sich sofort ans Werk und zog unsere beiden Praioten unter einem Vorwand vor die Tür. Draußen diskutierten die drei lautstark. Ich vergrößerte ein wenig meinen Ausschnitt und beugte mich zu Egbert runter.

„Komm schon, du weißt doch, wo Roana ist! Wie sollen wir denn vermitteln, wenn wir nicht wissen, wo sie sich aufhält? Bannbaladin, mein Freund, mir kannst du’s doch sagen!“ Ich bemerkte ein paar kleine Flüchtigkeitsfehler in der Matrix, die den Zauber um einiges schwächer ausfallen ließen. Doch Egbert sah mich hoffnungsvoll an: „Und ihr wollt ganz bestimmt vermitteln?“ Ich nickte: „Wir möchten diese Sache auf jeden Fall unblutig enden lassen!“ Egbert bohrte weiter nach: „Schwört, dass ihr es dem Vogt nicht verratet!“ – „Ich schwöre Euch, dass ich dem Vogt nicht erzählen werde, was Ihr mir verratet!“

„Und eure Gefährten auch nicht!“ Das konnte ich für unsere Praioten nun wirklich nicht garantieren. „Das kann ich so nicht versprechen, aber ich schwöre Euch, dass ich alles in meiner Macht Stehende dafür tun werde, dass sie es auch nicht verraten!“ Egbert sagte dann, sie würden sich im verfallenen Wehrturm in Wald aufhalten. Seine Wegbeschreibung war allerdings nicht wirklich brauchbar.

Diese Anwendung von Magie war durchaus gerechtfertigt: Ich hatte den Dispens des Vogts und eine wichtige Information bekommen, ohne dass Egbert dafür gefoltert werden musste. Im Gegenteil, er hatte sie mir freiwillig gegeben. Zufrieden trat ich vor die Zellentür. Tankred sah mich nur fragend an. Ich nickte. Tankred schlug daraufhin vor, wir könnten in einem ruhigen Zimmer doch mal zusammentragen, was wir bisher wussten, und planen, wie wir weiter vorgehen sollten.

Was hatten wir also bisher? Diese extreme Ausprägung des Praiosglaubens konnte ein Hinweis darauf sein, dass der Vogt mit seinem Verhalten für eine schwere Sünde büßen wollte oder sollte. Als Tankred erwähnte, dass Talina nicht nur Gundeline sondern auch noch Roana ähnlich sah, und somit ihre Halbschwester sein könnte, wurde auch klar, welche Sünde das genau sein konnte. Wir sollten den Vogt mal unauffällig nach seiner Frau befragen. Ich erzählte außerdem, was mir Egbert unter welchen Versprechen verraten hatte.

Wir teilten uns auf. Tankred und ihre Gnaden Sonnenlob und von Böckling studierten die Schriften und Aufzeichnungen, die seine Gnaden Praiolob hinterlassen hatte, ich hörte mich auf dem Marktplatz beim Volk um und unterhielt mich noch einmal mit der Heilerin und Hebamme Gundeline.

Die Männer sprachen ihre Gnaden Brianna Greifenstolz an. Diese ließ sich daraufhin eine Kiste mit den Unterlagen Praiolobs bringen. Sie durften die Schriftstücke in ihrem Beisein lesen. Die drei sortierten zunächst die Unterlagen thematisch, also nach Tagebuchnotizen und allgemeinen bzw. philosophischen Schriften, und diese dann, soweit möglich nach Datum. Seine Gnaden Praiolob war ebenfalls Zeuge der hundert Zungen und machte sich ebenfalls auf die Suche nach dem Quanionslicht. Eines Tages hatte er eine Vision mit den folgenden Worten: „Ein Funken wird die Finsternis erhellen, geboren aus Ungerechtigkeit und Leid. Sein Glühen wird ein helles Feuer entflammen um IHM im bevorstehenden Kampf gegen das Chaos zu dienen! In ihm wird SEINE Herrlichkeit erstrahlen und er wird erfüllt sein, von SEINER Gnade.“

Als er in diese Baronie kam, vermutete er hier den Funken, genauer, dass Roana diesen Funken darstellt und es seine Bestimmung sei, diesem Funken zum Sieg zu verhelfen. Dies sei ihm vom Herrn Praios höchstselbst aufgetragen worden. Er stellte auch fest, dass die Familie derer von Nilsitz  ihre Herkunft bis auf den heiligen Quanion selbst zurückführen konnte. Meine Gefährten bemerkten, dass sich die Schreibweise langsam änderte, von einer tiefen religiösen Inbrunst in eine deutlich weltlichere Sicht.

Was auch auffiel, war die, ich möchte es mal Interpretation des Praiosglaubens nennen. Seine Gnaden Praiolob sieht es als seine heilige Pflicht an, einzuschreiten, wo Rechte missbraucht und Pflichten vernachlässigt werden. Er will die Wahrheit verkünden oder verkündet sehen, ungeachtet der Konsequenzen. Dabei stellte er die ketzerische Frage, ob die Kirche des Herrn Praios nicht gegen dessen Gebote selbst verstößt durch die Aufrechterhaltung der „verkrusteten Institution Kirche“ selbst. Es dürfe keinerlei Geheimnisse geben – die Wahrheit stünde jedem Wesen offen. Was sich auch schon im Gespräch mit Egbert fand, war die Frage, was Recht ohne Gerechtigkeit sei – Recht habe immer gerecht zu sein. Und seine Gnaden Sonnenlob erregte sich besonders über die These, die Herrscher müssten gezwungen werden, ihre Pflichten zu erfüllen. Herrscher bräuchten ein Korrektiv.

Ihre Gnaden von Greifenstolz hatte dazu eine klare Meinung: Das Streben nach falsch verstandener Gerechtigkeit und Freiheit um jeden Preis unterminieren in letzter Konsequenz die Wahrheit und die Ordnung.

Roana hatte keine Aufschriebe hinterlassen. Einzig ein linker Kettenhandschuh mit Prothesen in drei Fingern konnte gefunden werden. Ihro Gnaden von Greifenstolz erzählte, dass Roana im Krieg gekämpft hatte. Ihre beiden Brüder waren gefallen, und sie selbst kam sehr erschüttert zurück. Ihro Gnaden selbst befand sich erst seit ein paar Wochen vor Ort. Der Vogt hatte sie ausdrücklich darum gebeten, da ihm die Veränderungen durch seine Gnaden Celio nicht geheuer waren. Sie und der Vogt kannten sich noch aus früheren Zeiten.

In der Zwischenzeit sah ich mich im Dorf und der Umgebung um. Das Dorf befand sich in einer Senke unterhalb der Burg. Umgeben von sehr urtümlichem, dichtem Bergwald war dies nicht gerade eine sonderlich fruchtbare Gegend. Hier und da sah man ein wenig Nutzvieh, aber große Mengen an Milch durften eher nicht zu erwarten sein. Mir fiel auf, dass ich überwiegend ältere Leute sah; nur sehr wenig Kinder oder junge Leute.

Noch während ich mich umsah, sprach mich der Dorfvorsteher Radod Haberle an. Er bedankte sich nochmals für das Eingreifen meiner Gefährten, um den verräterischen Soldaten Egbert festzusetzen. Ich nahm die Gelegenheit beim Schopf und befragte ihn ein wenig zur allgemeinen Situation des Dorfes und der Vogtei. Der Dorfvorsteher war generell durchaus auf der Linie des Vogts. Wer nicht im Krieg selbst diente, tat seinen Beitrag, damit die Freunde und Nachbarn irgendwann wieder sicher heimkehren konnten und nicht an der Front verhungerten. Die meisten jungen Leute waren tatsächlich genau dort, im Krieg. Daher taten die Dörfler alles, um ihre Lieben dort zu unterstützen, selbst wenn es schwere Einschnitte für sie selbst bedeutete. Das betraf auch Kinder und Alte, die zu großen Teilen in den Minen arbeiteten. Dazu muss man wissen, dass der menschliche Teil der Vogtei über der zwergischen Bergfreiheit Eisenwald in kleinerem Umfang auch Schürfrechte hatte.

Während unseres Gesprächs zog eine Prozession an uns vorbei zum Boronanger. Ein etwa vierzehnjähriges Mädchen war gestern bei einem Mineneinsturz umgekommen. Man hatte ihr bunte Bänder ins Haar geflochten und sie mit einer Krone aus gewundenen Eibenzweigen geschmückt. Armes Mädchen! Auch sie kann zu den Kriegstoten gezählt werden.

Insgesamt ist wohl die Mehrheit der Bevölkerung der Baronie mit der Verwaltung des Vogts sehr zufrieden. Er scheint ein gerechter Herr, streng aber eben nicht ungerecht. Und selbstverständlich gibt es auch Unzufriedene. Genau diese ließen sich offenbar von seiner Gnaden Praiolob zu dieser Revolte aufstacheln. Damit gab er sowohl dem jungen Geweihten als auch den so beeinflussten Dorfbewohnern wie auch Roana selbst die Schuld an der ganzen Situation. Denn durch diesen neuen Konflikt fehlten jetzt Arbeitskräfte. Und nach dem Diebstahl auf den Vorratswagen wurden auch die Lebensmittel knapp. Allerdings räumte der Dorfschulze auch ein, dass die Ursache dieses ganzen Übels eigentlich „in diesem verdammten Krieg“ zu finden sei. Ich fragte ihn noch nach dem Haus von Gundeline und verabschiedete mich dann von ihm.

Die Heilerin ließ mich ein. Ich lobte erst einmal ihr handwerkliches Geschick beim verarzten der Wunden. Nach kurzem Zögern baute ich auch hier in einen Satz unauffällig das Wort Bannbaladin in die Konversation ein. Dieses Mal gelang der Cantus richtig gut. So lenkte ich das Gespräch dann auch recht schnell auf Talina. Ein aufgewecktes Kind. Aber wer der Vater war, wollte sie mir trotzdem nicht verraten. Sie musste einen deutlich stärkeren Schutz gegen die arkanen Kräfte besitzen. Andererseits ist es vielleicht besser so, da ihr das Gespräch dadurch nicht verdächtig vorkommen kann. Sie schien treu auf Seiten des Vogts zu stehen und für Roana nicht viel übrig zu haben. Wie Sie ihrem Vater durch ihre Rebellion und ihr lästerliches Verhalten so das Herz brechen könnte. Das klang nach viel persönlichem Groll. Am Ende des Gesprächs fragte ich sie noch nach einer Wegbeschreibung zum alten Wehrturm. Sie gab mir eine Richtung vor und ein paar Landmarken; es sei etwa eine halbe Tagesreise.

Beim Mittagessen fragte Tankred den Vogt, ob er uns ausstatten könnte, damit wir in der Umgebung nach seiner Tochter suchten. Da er das bejahte, machten wir uns nach dem Mittag auf, den Turm und damit Roana zu suchen. Dummerweise waren wir uns völlig uneins über die Richtung und gingen bald hierhin, bald dorthin. Als es dunkel wurde, erreichten wir wieder das Dorf. Wir waren im Kreis gelaufen! Daher zogen wir in die Schenke ein. Die Beerdigung war natürlich das große Thema im Schankraum. Unsere beiden Praioten boten sich sofort an, das Grab einzusegnen. Tankred machte hingegen die Bekanntschaft mit dem Jäger Arwin. Er überzeugte den Jäger, dass wir dringend mit Roana sprechen müssten, wir hätten auch eine Lieferung für sie. Die Antwort: „Seid morgen Mittag hier, ich werde sehen, was sich machen lässt“