Aus dem Tagebuch der Magierin Yolande Silbersaite, Ritterin des Humus
17. Ingerimm 1032 BF
[…]
Während Tankred noch dem Flüchtenden hinterherrief
und drohte, ihn mitsamt dem Wald abzufackeln, wägte ich kurz
die Situation ab: Während drei Schergen ihre Kurzschwerter
weggeworfen hatten und seiner Ehrwürden zu
Füßen liegend um ihr Leben bettelten, lag einer mit
einem zertrümmerten Schädel und der
Axtkämpfer mit abgetrenntem Bein und einer extremen Brustwunde
am Boden. Baldus‘ Ochsenherde hatte ganze Arbeit
geleistet – hier kam jede Hilfe zu spät. Der dritte
lag bewusstlos im Sterben. Der Axtkämpfer hatte im Grunde
schon seinen Richtspruch erhalten und die gerechte Strafe empfangen.
Außerdem bezweifelte ich, dass ich schnell genug sein
würde, da er mit der offenen Schlagader in wenigen
Augenblicken bewusstlos und bar jeder Rettung sein würde. Das
Opfer des Flammenstrahls hingegen konnte noch auf Rettung seiner Seele
hoffen.
Während ich zu dem Verbrannten niederkniete und einen
Balsam-Cantus begann, hatte sich seine Gnaden von Sturmfels zum
Axtkämpfer niedergekniet und hielt dessen Hand.
„Bereust du deine Sünden?“ –
„Ja, ich bereue!“ Noch während seine
Gnaden ihm seine Vergebung aussprach, verblutete der Mann. Baldus
fragte mich unterdessen, ob es nicht Verschwendung von astraler Kraft
sei, den eigentlich Todgeweihten noch zu retten. Ich entgegnete, auch
ein Verurteilter hatte das von den Göttern gegebene Recht,
selbst auf seinen eigenen Beinen und hoch erhobenen Hauptes zum
Richtplatz zu schreiten. Auch wenn die wenigsten davon Gebrauch
machten, ist es doch der Heiler Pflicht, ihnen zumindest das zu
ermöglichen.
Ich beendete den Balsam-Cantus, der den Verletzten auf ein stabiles
Niveau brachte, sodass er wieder laufen konnte. Ein paar Brandnarben
würden bleiben, doch das sah ich als gerechte Strafe und
Denkzettel an, sich einer Räuberbande anzuschließen.
Inzwischen bedankte sich der Händler recht
überschwänglich. Es handelte sich um Linnert
Kupferpfann. Er war dem Ritter von Kaldenmoor gut bekannt, belieferte
er dessen Wachtturm und die anderen der Finsterwacht
regelmäßig mit Vorräten. Der
Überfall fand direkt auf eine dieser Lieferungen statt.
Meister Kupferpfann ließ sich jedenfalls nicht lumpen und gab
ein Gläschen Premer Feuers für jeden aus. Ich hob
mein Glas:
„Auf das Leben!“
Seine Gnaden von Sturmfels tat es mir nach und sprach: „Auf
das Leben, und dass wir immer zur rechten Zeit am rechten Ort
sind!“
Darauf stießen wir an und leerten die Gläser. Es war
ein wirklich hervorragendes Gemisch! Ich erkannte zwei verschiedene
Holzsorten, also war der Schnaps entweder zwischendurch
umgefüllt oder diese Fuhre war aus verschiedenen Ernten
zusammengemischt worden. Tankred und seine Gnaden von Sturmfels waren
dermaßen begeistert, dass sie prompt jeder einen Schank
erstanden. Aus Dankbarkeit für seine Rettung machte Meister
Kupferpfann ihnen einen echt guten Preis.
Als nächstes befragten wir die Gefangenen. Dabei war ein
Junge, der vielleicht zwölf Götterläufe
erlebt hatte. Die Räuber zeigten sich reuig und bezeugten,
dass sie in der Bande der Wölfe von Lichthag gewesen waren.
Darauf entbrannte die Diskussion, was nun mit den gefassten
Räubern geschehen sollte. Seine Hochwürden Praiodatus
machte darauf aufmerksam, dass der Fall nicht bei der kirchlichen
Gerichtsbarkeit lag, zumal der Herr über diesen Landstrich uns
ohnehin begleitete. Tankred schien die Sache sehr pragmatisch zu sehen:
Er war dafür, die Strauchdiebe sofort aufzuhängen.
Seine Wohlgeboren Firumar sah die Sache etwas anders: Da sie
tatsächlich niemanden verletzt hatten (bei dem von mir
Geblitzten lässt sich zumindest argumentieren, dass dieser das
versucht hatte) und wir nur eine Tagesreise von seinem Sitz entfernt
waren, entschied er, sie zusammenzubinden und mitzunehmen. Auf seinem
Sitz wollte er ihnen einen gerechten Prozess zukommen lassen. Wir
banden ihnen also die Hände und zusätzlich an ein
durchgehendes Seil. Außerdem wurden jedem die
Füße dergestalt zusammengebunden, dass sie noch
gehen aber nicht mehr laufen konnten. Dann machten wir uns wieder auf.
Als es dunkel wurde, schwärmten wir aus, ein Lager
für die Nacht zu suchen. Tankred fand einen Findling, der an
einem Hügel überstand, sodass sich eine Art
natürliche Höhle bildete. Das wäre alles
vollkommen in Ordnung gewesen, hätte dort nicht eine Orkleiche
gelegen. Die Weidener in unserer Gruppe weigerten sich
zunächst, überhaupt in der Höhle zu
schlafen. Auch mein Angebot, die Leiche mit einem elementaren Wesen
kurz zu guter Muttererde verwesen zu lassen, minderte ihren Ekel nicht.
Aus der jetzt entstehenden Diskussion ergab sich schlussendlich, dass
seine Gnaden von Sturmfels zufrieden war, wenn die Leiche hundert
Schritt vom Lager weg sei.
Als er sie deswegen packen wollte, hielt er inne: Die Leiche hatte ein
Brandzeichen auf der Stirn; ein Sonnensymbol, das irgendwie komisch
aussah. Letztlich stellte er fest, dass das Sonnensymbol nur elf statt
der alveranischen zwölf Strahlen hatte. Außerdem
wirkte es allgemein eher krude und mehr oval denn, wie es sich
geziemte, rund. Auf einmal meldete sich einer der Gefangenen, der Junge
zu Wort. Er hieß Perainian und konnte sich an ein
Gespräch im Lager erinnern, das die Anführerin der
Wölfe Alena Kohlenbrand mit einem ihrer Unteranführer
geführt hatte. Darin hieß es, die dämlichen
Orks hätten den Köder geschluckt und es
könne nun nicht mehr lange dauern. „Wenn es hinter
dem Jungfernsteiß raucht“, so waren wohl ihre
Worte, „brauchen wir uns das Gold nur mehr beim Hof
abzuholen“.
Irgendwie wusste aber niemand, die Landmarke Jungfernsteiß
einzuordnen, weder der Ritter, noch der Händler, noch die
Räuber und auch uns war dieser Name vollkommen unbekannt.
Seine Wohlgeboren von Kaldenmoor meinte jedoch, seine
Wildhüterin kenne die Gegend wie kaum ein zweiter; sie
würde mit dem Namen schon etwas anzufangen wissen. Seine
Gnaden von Sturmfels brachte die Leiche dann weit weg vom Lager.
18. Ingerimm 1032 BF
So langsam wurde das Wetter besser: Der dichte Regen lichtete sich
heute zu einem leichten Nieselregen. Tankred war komplett trocken. Mich
störte der Regen nicht allzu sehr, aber seine Gnaden von
Sturmfels machte sich natürlich berechtigte Sorgen um seine
Rüstung. Daher fragte er sehr interessiert nach, warum Tankred
vollkommen trocken war. Wie vermutet hatte er eine Arkanoglyphe der
elementaren Abstoßung für das Element Wasser
appliziert. Seine Gnaden bat ihn um eine solche Glyphe auf seinem
Mantel.
Den ganzen Tag führte der Weg steil bergauf. Mit der Zeit
waren kurze Laute der Dohlen zu hören. Ich nahm es als gutes
Omen, dass es nicht das übliche „Arrr“
war, das den Rufen der Krähen so ähnelt sondern mehr
ein Gesang kurzer Ah-Laute in verschiedenen Tonhöhen. Es klang
fast, als freuten sie sich über etwas.
Abends dann konnten wir den Finsterkamm in der Ferne sehen. Ich konnte
schon verstehen, warum man lange Zeit dachte, die Orks würden
diesen niemals passieren können. An einem Bachlauf entlang
erstiegen wir eine steile Anhöhe und standen direkt vor der
Motte. Drinnen liefen bereits die Vorbereitungen für das Fest.
Wie wir auf Nachfrage erfuhren, jährte sich der Tsatag der
Hausherrin das dreißigste Mal. Der Ritter hatte wie jedes
halbe Jahr Bericht in Greifenfurt erstattet und war
verständlicherweise froh, pünktlich wieder zuhause zu
sein.
Die Gefangenen wurden in ein paar Zellen gesteckt, seine Wohlgeboren
Ritter von Kaldenmoor machte sich frisch, und wir parlierten derweil
ein wenig mit seiner Gattin. Sie erzählte uns, dass die Herrin
Tsa den beiden bisher nicht hold gewesen sei. Die Wildhüterin
bzw. Jägerin Alrike traf nach einiger Zeit ein; sie hatte an
einem Gürtel, der von ein paar Trägern auf ihren
Schultern gehalten wurde, ein paar Hasen zu baumeln. Sie war blond und
von einem drahtigen Körperbau, aber nicht unansehnlich; in
gewisser Weise eine herbe Schönheit. Sowohl ihre etwas
späte Ankunft als auch ihre Jagdbeute führte sie auf
die Schuld der Steinböcke zurück. Diese hatten sich
vor ihr, wie sie so schön sagte, „in den Schutz der
Kirche“ begeben. Auf Garethi: Sie waren auf den Klostergrund
von Arras de Mott geflohen, in dem die Jagdbefugnis der
Wildhüterin von Dohlentrutz nicht mehr galt. Sie beantwortete
uns auch die Frage, was denn der Jungfernsteiß sei. Die
Jungfer war ein etwas flacherer Bergrücken, der im Efferd von
Dohlentrutz lag und einer liegenden Frau ähnelte. Seine beiden
höchsten Kuppen waren die Jungferschulter und der
Jungfernsteiß. Hinter letzterem befand sich die Grenze zum
Klostergrund von Arras de Mott, etwa drei bis drei Tagesreisen von
hier, zumindest, wenn man mit einer größeren Gruppe
unterwegs war.
Das ergab ein ziemlich klares Bild: Die Räuberbande wollte
sich die Klosterschätze unter den Nagel reißen,
zumindest das, was die Orks übrig lassen würden. Als
Tankred und seine Gnaden von Sturmfels der Jägerin die Lage
erklärten, meinte diese, sie hätte in den vergangenen
Wochen immer mehr Späher in der Gegend um Arras de Mott
gesichtet, Späher vom Stamm der Gharrachai.
Hier meldete sich sein Hochwürden zu Wort: Große
Dinge würden die Gharrachai immer bei Vollmond beginnen, daher
sei von entscheidender Bedeutung, wann denn der nächste
Vollmond sei. Das wäre dann vermutlich auch der Zeitpunkt des
Orkangriffs auf Arras de Mott. Vollmond war übermorgen. Wenn
wir also sofort aufbrachen, wären wir noch gerade rechtzeitig
da, um die Räuberbande beim Plündern zu sehen. Das
Kloster musste also gewarnt werden. Zwar existierten Signalfeuer
zwischen den einzelnen Stationen auf dem Finsterkamm, jedoch war das
Kloster nicht in diese Signalkette eingebunden. Mir fiel als
nächstes die Variante ein, ein elementares Wesen zu schicken.
Baldus fing daraufhin schallend an zu lachen: Praioten mit einem
magischen Wesen warnen! Er hatte Recht, das hatte eher keine echten
Erfolgsaussichten!
Warum allerdings nicht er sondern erneut jemand anderes,
nämlich in diesem Fall seine Hochwürden stattdessen
vorschlug, die Klosterleitung mit göttlicher
Verständigung zumindest zu warnen, ist ein erneuter Punkt, auf
den seine Hochwürden den guten Baldus einmal hinweisen
könnte. Jedenfalls zog sich der höchste
Würdenträger unserer Runde zum Gebet zurück,
um seine Warnung zu verschicken.
Wir anderen beratschlagten weiterhin, was die besten Erfolgsaussichten
lieferte. Eventuell den Orks per Elementar die Nachricht zukommen
lassen, sie seien reingelegt worden? Gut, auch die würden eher
ein Elementarwesen angreifen, statt erst einmal zuzuhören.
Woher kommt eigentlich dieser furchtbare Drang, immer erst einmal
irgendetwas zu Brei zu schlagen, bevor man ihm zuhört? Ich
werde sowas nie verstehen!
Tankred drehte den Vorschlag etwas: Wir sollten vielleicht
zunächst die Wölfin aus ihrer Räuberbande
festsetzen, um die Orks durch ihr Geständnis davon zu
überzeugen, den Angriff abzublasen, anschließend das
Orklager ausräuchern, danach die heimkehrende Truppe. Seine
Gnaden von Sturmfels fand den Vorschlag hervorragend. Fragte ich schon,
woher der unglaubliche Drang kommt, zuerst etwas zu Brei…
Ach richtig!
Dieser Plan setzte allerdings gleich mehrere Dinge voraus, und kein
einziges war wirklich wahrscheinlich:
Ad Primum:
Wir finden die Räuberbande und beseitigen sie; eine
Sache, an der die örtlichen
Machthaber bereits seit
längerem scheitern.
Ad Secundum:
Wir finden das Lager der Orks.
Ad Tertium:
Sie hören uns zu, ohne uns zuvor zu Brei zu schlagen.
Ad Quartum:
Sie haben eine Möglichkeit, den Angriff ihrer Truppe
abzublasen.
Ad Quintum:
Wir schaffen es, das Orkenlager zu vernichten, ohne dass die
heimkehrenden Orks auf die
gleiche Weise gewarnt werden.
Ad Sextum:
Anschließend schaffen wir es, die heimkehrenden
Orks, die sich in schlechter Laune
befinden werden, weil sie
nicht kämpfen und morden durften und gut ausgerüstet
sind,
ebenfalls zu vernichten.
Ad Septimum:
Das alles innerhalb von zwei Tagen, denn sonst ist das
Kloster nicht zu retten.
Und ad Octavum: Und das mit einer Gruppe
von nicht einmal einem Dutzend Leuten, von denen sich die
Hälfte vor nicht
allzu langer Zeit einmal in einem Wald verlaufen hatte.
Ich hatte allerdings auch keinen besseren Vorschlag, daher
beließ ich es dabei, diese Einwände nur zu denken.
Wildhüterin Alrike meinte, es könnte sein, dass ein
Mann namens Zairan uns vielleicht helfen könnte. Denn die Orks
kennen und respektieren ihn. Er ist ein Einsiedler, der sich der Herrin
Rondra verpflichtet fühlt. Eventuell wüsste er wo das
Lager der Orks zu finden wäre.
Eine Stunde später brachen wir bereits auf. Wir wanderten die
Nacht durch über steile Anstiege und felsige Hänge.
Als das Mal des Herrn Praios am Morgen des 19. Ingerimm unsere Sicht
wieder erhellte, konnten wir in einiger Entfernung ein Felsplateau
sehen, auf dem eine Reihe von Findlingen stand. Das war unser Ziel.
Nach einiger Zeit erreichten wir schließlich das Plateau. Vor
einer Höhle zwischen den Findlingen sahen wir eine Gestalt in
einem weißen Wappenrock unter einem Felsen liegen.