Ein Brief an den Hüter Aureas, persönlicher Secretarius des Pater Visitator Praiodatus, in der Klausur des OSC zu Elenvina

Mein Sohn und Bruder,

dem Gebot des Herrn und seines Heiligen Dieners Arras de Mott folgend weise ich Dich an, getreu in die Archive des Ordens aufzunehmen, was zu Hüten ist – Custodes Sumus, Scriptura Manent, PRAios Vult. Ich berichte Dir vom Fortgang meiner Reise.

[Es folgt eine längere Passage, welche die Inhalte der vorangehenden Protokolle aus Sicht Praiodatus‘ wiedergibt. Dann nimmt der Geistliche die aktuellsten Ereignisse in den Blick.]

Den Choral „De Profundis“ auf den verkrusteten Lippen entstiegen wir den grausligen Höhlen unter Arras de Mott am Abend des 28. ING 1032 BF.

Wir treten nach dem Höhlenabenteuer – PRAios bewahre mich vor der Versuchung, es ein Höllenabenteuer zu nennen, aber gewisslich: ganz unwahr wäre das nicht! -  in einen herrlichen Sonnenuntergang. Der Herr entlässt seine Diener in die Ruhe der Nacht, in der seligen Gewissheit, dass sie SEIN Heil haben leuchten gesehen – ein Licht, dass die Herzen erleuchtet und Herrlichkeit für seine auserwählten Gläubigen.

Die Gemeinschaft, die in den Mauern unseres Ordens Bezug genommen hat, nimmt sich unserer mit erfreulicher Bewegtheit und Sorge an.

Während unsere Zerschundenheit begutachtet wird, maßregeln Bruder Baldus und der Magus denjenigen, der im Hofkreis der Illuminata so etwas wie die Bibliothekarsrolle innezuhaben schien: „DAS ist die schrecklichste, unordentlichste Bibliothek, die ich JE gesehen habe“ musste er – bei allen Drachen Alverans, zu Recht – hören. Und den Rat des Zauberers sollte er beherzigen: „Ihr solltet da wirklich dringend mal aufräumen!“

Nachdem man sich vergewissert hatte, dass niemand ernstlich leidet, bereitete man uns Bäder. Ich will nicht unerwähnt lassen, dass die Sanatio unserer Vulnerabilitäten nicht zuletzt auf die außergewöhnlich talentierte, junge Zauberin zurückgeht, die uns begleitet. Eine seltsame, hübsche Person. Einerseits verkörpert sie die guten Gaben der Herrin HESinde, gleichsam aber scheint sie wieder von deren Geist völlig entfremdet. Ich meine, bei Daradors Schuppen, sie will das alles von Fuldigor gelernt haben … oder … so ähnlich. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich dieser Sache näher anzunehmen – und ich diente dem Herrn PRAios in den Reihen seiner Inquisitoren, aber ich bin kein Seelenheiler. Ob man die gelehrte Dame wohl einmal in der auf die Behandlung verwirrter Magi spezialisierten Akademie zu Perricum vorstellig lassen werden sollte? Beizeiten mehr. Aber, Bruder Aureas, noch einmal und ernsthaft: Ful Di Gor?

Nun aber will ich Dir von Gurvanischen Chorälen berichten. Der Heilige Gurvan möge Bruder Baldus vergeben, und mit ihm die Herrinnen RAHja und HESinde, deren Notenschrift der Bruder so kunstlos ad absurdum führte. Die heulenden Geister der Toten, von denen man im Albernischen bei blakender Kerzenflamme schaurige Geschichten spinnt, die Ban-Shee – diese können nicht grausamer klingen als der entspannt badende Baldus. Offenbar hat es dem Herrn gefallen, nicht nur den Armen, sondern auch der Stimme des Gotteskriegers große Kraft zu geben. Aber es entzieht sich meiner beschränkten, menschlichen Erkenntnis, warum es dem Herrn nicht auch gefallen hat, wenigstens ein wenig Talent hinzuzufügen … nur ein wenig? Ah. Grauslich. Ich jedenfalls erkannte wieder einmal, dass das Wirken von Magie nicht immer von Schaden und von Falschheit ist, denn ich bin mir nahezu sicher, inmitten der gegrölten Kakophonie die energische Stimme Meister von Scheehags gehört zu haben, wie sie einen Stillezauber wob. Unglücklicherweise endete die Wirkung desselben ausgerechnet in dem Moment, als der gute Bruder Baldus irgendetwas Unpassendes nach der Art von „Nach dem Bad kommen noch Bier und Nutten“ verkündete, gradewegs hinein in die Ohren der ihn badenden Novizin, die von einer ihn badenden dann zu einer ihn ohrfeigenden Novizin wurde. PRAios Lo Vult!

Später ummantelte uns der Herr BORon mit den samtschwarzen Schwingen des Schlafes.
Der Gott der Stille hat uns so wohlgetan.
Beim fauchenden Famerlor, was für eine Stimme.

Am Morgen des 29. ING 1032 BF, gleich nach dem Morgengottesdienst gab es Bewegung am Tor. Der Vogt Ungolf Fichtenschlag auf Gut Erlental, der die Verschwörung zum Sturz gegen Arras de  Mott anführte, erreichte wie befohlen als Geißler das Kloster. Die Illuminata wurde gerufen. Wir erklärten Ihr den Schuldspruch und die Überstellung unter ihre örtliche Gerichtbarkeit. Voller Weisheit erinnert sich die Illuminata des gestrigen Abends und unserer ersten Berichte von den Kavernen und Höhlen unter dem Kloster. Und so sprach sie Recht: Ungolf der Sünder müsse die Bibliothek aufräumen und bis zur Vollendung dieses Werkes ein Schweigegelübde ablegen. Während ich der Illuminata – recht und wahr und weise, doch widerwillig – Anerkennung zollte, nahm es der Magus weniger genau mit den Gnadenakten und hieb dem ehemaligen Vogt kräftig auf den zerschundenen Rücken. „Das, mein Freund, wird Jahre brauchen.“

Später am Tag wurden wir gebeten, die Gemächer der Illuminata aufzusuchen. Lechmin hatte über die Einladung Seiner Erhabenen Weisheit des Lichtboten nachgedacht, über die Kirche meditiert – und nun wollte sie in Erfahrung bringen, was die konservativen Kirchenkreise eigentlich gegen sie haben. „Es muss doch auch andere Wege geben, wir müssen doch neu denken dürfen“.



Es entspann sich ein religions- und kirchenphilosophischer Diskurs, an dem neben uns Geweihten des Herrn auch die gelehrten Magi teilnahmen. Der Ritter der Göttin indess empfahl sich, da er mit der jungen Jagdmeisterin des Klosters an der Ausbildung der frisch gewölften Jagd- und Hütehunde arbeiten wollte.

Vieles besprachen und beleuchteten wir in diesen Stunden. Die Verkündigung der 100 Zungen wurde ausgelegt, die Geschichte zitiert. Die Frage nach der Schicksalshaftigkeit gerade unserer Pilgergruppe in einer Zeit voller Umbrüche, wo sich unser Aufleuchten in der Geschichte karmal auch mit Blick auf andere, schicksalshafte Großereignisse einsortieren lässt und vieles mehr. Die Sünde in Gedanken, Worten und Werken wurde der Freiheit der Gedanken gegenübergestellt.

Trotz unterschiedlicher Meinungen erkannten wir doch – teils widerwillig – die Diskussions- und Reflexionsbereitschaft der anderen an. Ich statuiere: die Illuminata trägt eigensinnige, aber nicht ausschließlich umstürzlerische oder ausschließlich unvernünftige Gedanken im Herzen, führt ihre kluge Weisheit aber leichtsinnigerweise zu offen auf der Zunge, statt sie nur im Herzen zu bewegen. Auf diese Weise öffnet sie ihr gutes Werk für Missinterpretationen durch weniger berufene Geister. Wehe, wenn ich auf das wahrscheinliche Ende sehe! Wo die Illuminata im Sinne des Weidener Herzogs an durch die Kirche gesegnete Appelationshöfe denkt, die jedermann Recht verschaffen können – so mag dasselbe Gedankengut, daß sie zu diesen PRAiosgefälligen Schlüssen führt, nur allzu leicht zu Irrläufen der Demokratie und der Radikalisierung, des Umsturzes und der Zerstörung führen.

Die Illuminata fragte uns auch nach unserer konkreten Queste. Wir berichten von unserer abweichenden Version der allgemeiner bekannten Legende des Hl. Quanion und wir berichten auch vom Praemonstrator Lucis. Bruder Baldus erläuterte all das anhand seines Vademecums. Ach, Baldus. Er kann nicht singen, und das Entziffern seiner eigenen Schrift macht ihm Mühe, aber seine Notizen erschienen mehr als tauglich.

Auch über die Inhalte der Queste sprachen wir eingehender. Wir waren uns einig: Es wird Opfer, Schweiß, Blut und wohl auch Leben kosten, wir werden verlieren und gewinnen, schlussendlich werden wir das Licht zurückbringen. Aber wir waren unterschiedlicher Meinung über die Bedeutung der Vorstellung davon, was es heißt, „Das Ewige Licht von Gareth“ wieder zu finden.  „Das Licht finden“ kann natürlich physischer Natur sein, ein heiliges, ein karmales Artefakt in seiner diesweltlichen Hüllte. „Das Licht Finden“ erfüllt die Queste aber auch als Erkennen des lichten Wesen des PRAios selbst: das Wesen des Gottes des Rechts, das Wesen von Recht und Gerechtigkeit, die innerste Bedeutung von Wahrheit und Tugend und der Säulen, auf denen der Glaube an den König der Götter und Gott der Könige von alters her ruht. Und so auch seine Kirche.


Im Zuge der Ereignisse rund um die Queste des Hl. Quanion fragte uns die Illuminata, ob wir von den eigentümlich zahlreich in Gashok erblühenden Quanionen gehört haben. Das hatten wir. Die junge Maga berichtete und zitierte den „Boten“.  Die Illuminata und ich führten für die anderen aus, dass Gashok 612 von Durian Gashok gegründet wurde, der den Weihenamen Durian Praiotin führte. Dieser hatte während der Magierkriege eine Vision in Aureliani, die ihn anwies, die Gläubigen durch die Finsternis ins Licht zu Führen. Er interpretierte dies so, dass er die Menschen, die von den Magierkriegen geplagt waren, über den Finsterkamm und durch das mitternächtliche Herzogtum führte , damit im „Land des Lichts“ eine neue Wohnstatt entstehe – daraus wurde der „Lowanger Dualismus“. Interessant ist aber wohl der Hintergrund der Vision und zudem soll sich Durian Praiotin einen Funken des Ewigen Lichts erbeten haben, um im „Gelobten Land“ einen Tempel weihen zu können.  Uns ist die Bedeutung dieser Funken für die Tempelweihe mehr als deutlich, gerade jetzt und in unserer Zeit – nicht zuletzt erinnerten wir den geschändeten Tempel in Gratenfels der nicht einfach neu geweiht werden konnte. Schwester Lechmin konnte in ihrer Zeit als Greifenfurter Illuminata keine Hinweise darauf finden, dass die Tempelweihe im „Gelobten Land“ stattgefunden habe – was ist mit dem Funken des Ewigen Lichts geschehen? Der Funke wird in einem Phosphoros aufbewahrt, eine Art liturgische Prozessions-Halterung. Vielleicht wurde dieser Funken mit seinem „Besitzer“ begraben? Und Gashok liegt ohnehin auf einem möglichen Weg nach Norden.

Dies alles kann und wird kein Zufall sein.

[Es folgt nun eine Reihe eher belangloser Schilderungen, die den Zeitraum etwa eines Mondes abbilden. Möglicherweise interessant ist ein Honigfladenrezept, von dem der Verfasser offenbar sehr angetan war.  Natürlich finden sich auch allerlei Verweise auf den möglichen Bezug von „Bizeps und Bildung – nimmt das eine zu, nimmt das andere ab“, wenn sich Praiodatus der teilweise doch noch mehr kriegerischen als geweihten Sitten von Baldus Sonnenlob annimmt. Und offenbar hat dem alten Götterdiener die Sache mit Fuldigor so wenig Ruhe gelassen, dass er noch zwei oder drei Mal sein Bedauern für den Geisteszustand der armen, jungen und sehr attraktiven Magierin ausdrückt. Dann wird sein Bericht für den Orden des Hüters wieder anlassbezogener.]

Uns war aufgefallen, dass ab Mitte RAHja eine eigenartig hohe Zahl von Boten das Kloster erreichte. Das konnte nicht nur mit der Bevorratung für die Tage ohne Namen zu tun haben.

Am vorletzten Tag des alten Jahres 1023 stellte uns die Illuminata eine Novizin vor: Lumine Rösserknecht. Lechmin sagte uns nicht ohne Stolz, Lumine sei eine der begabtesten Alchimisten in der Praioskirche, die sogar besser sei als manches Mitglied des „Roten Salamanders“. Um das neue Jahr zu begrüßen, wolle die zierliche junge Frau ein Magnum Opus der Sonnenalchemie zelebrieren und am Letzten Unaussprechlichen umsetzen. Ich war nicht verwundert, dass unser Magus gleich seine Unterstützung anbot.

 „Sonnenalchemie“ basiert auf in Bernsteinflaschen eingefangenem Sonnenlicht. Es gibt Strömungen in der Kirche, die mit guten Argumenten solches als unerhörtes Rütteln an den Mauern Alverans betrachten, nämlich als den Versuch, sich die Macht des Herrn PRAios unverdient und anmaßend anzueignen. Gleichwohl diese Interpretation stark gestützt werden kann, so ist doch unabweislich, dass sich die Kirche seit Ewigkeiten der Kunst der Solaren Alchymik bedient, und da zumindest keine mir bekannte Schandtat je auf ihrer Grundlage erwirkt worden wäre, so hatte ich keine Einwände.

Die Novizin Rösserknecht bei ihrer Arbeit zu beobachten, war äußerst faszinierend. Einer echten Expertin bei der göttergefälligen Kunst zu über die Schulter sehen zu können, das ist ein erhebendes Gefühl.

In der letzten Nacht des alten Jahres versammelten sich alle zum Ritual.  Uns umgaben alchemistische Werkzeuge, optische Geräte, Lichtbrecher, Spiegel, Prismen, Kerzen und so weiter und so fort. Doch auch die sympathetischen Elemente der Alchemie wurden berücksichtigt: als der Aufbau fast vollendet war, brachten einige Mitglieder von der Gemeinschaft des Klosters besondere Artefakte herbei. Sie integrierten ein Richtschwert aus Eslamsroden, Leuchtendes Gold in Barrenform, die Essenz von Feuerkäfern und sogar die konservierte Peitsche eines niederen Dämons aus dem Gefolge des unheiligen Richters. Rösserknecht fügte „Unschuld“ hinzu, als eine junge Mutter mit ihrem neugeborenen Kind in den Kreis trat. Ein Hauch von Ewigkeit und Wiederkehr umwehte die Aufbauten, als eine ganze Familie den Altarraum umstellte - Großeltern, Eltern. Ein geweihtes Bild wurde herangetragen. Und schließlich trat ich auf Bitten Illuminata selbst hinzu und wurde Teil des Magnum Opus. Mein Aspekt? Das „Überwinden von Vor-Urteilen“ und das „Finden von Gerechtigkeit“. Der Herr sprach durch seine Dienerinnen, und sein Diener hörte.

Gurvanische Choräle erklangen. Sogar Baldus schaffte es, den Ton zu halten.

Stelle Dir vor, mein Sohn und Bruder:

Über der Apparatur beginnt ein Funken zu glimmen, der pulsiert und heller wird, immer mehr „Zutaten“ kommen dazu, das Licht gewinnt an Kraft. Die Zeremonie dauert bis kurz vor Sonnenaufgang. Das Licht brennt sich geradezu in die Seele der Anwesenden, Lichtblitzartig erstrahlt der Tempel und durchdringt Mauerwerk, Anwesende und die Geister und Seelen der Menschen. Es fühlt sich an, wie Sonnenlicht und „mehr“ – es ist „warm“ aber auch „wahr“ und „durchdringt die Finsternis“ – und als das strahlende Licht langsam vergeht, geht die Sonne auf und das neue Jahr beginnt. Der Herr des Lichts nimmt auf seinem alveranischen Thron Platz, und Lumine Rösserknecht hat wahrhaftig einen Teil Göttlichen Lichts erzeugt! Allen, die gegen die Finsternis streiten, wurden seine Kraft und Gnade zuteil! Der Herr sei gepriesen in allen Zungen und zu allen Zeiten! Sol Invictus!

Er leuchtet wahrhaftig in uns.

Bruder Aureas, mein Sohn und Bruder vor dem Herrn, ich schreibe Dir beizeiten wieder.

Möge der Herr Dich leiten und die Schwingen seiner Heiligen Greifen über Dir breiten, bis wir einander wiedersehen.

P. Praiodatus OSC