Tagebuch des Praiosgeweihten Baldus Sonnenlob
13. Praios 1033 BF
Als wir triumphierend mit dem Gefäß des Lichts nach
oben in den Boron Tempel zurückkehrten, war mir klar, dass
dies nur in einem Hinterhalt enden konnte. Noch nie in Aventurien war
jemals ein Schatz gehoben worden, ohne dass der Finder ihn kurz darauf
verteidigen musste. Es sei denn, der Kampf kam schon deutlich davor.
Ich und Emmeran schritten die Treppe hoch voran. Als wir oben waren,
fächerten er und direkt darauf Ulfried uns nach allen
Richtungen auf. Unsere Blicke suchten die wenigen Verstecke und
Deckungsmöglichkeiten ab. Die Schilde nach allen Seiten
schützend erhoben. Aber weder stürmten Paktierer
durch die weit offenstehende Tempeltür, noch wurden wir von
den hoch liegenden zerbrochenen Fenstern aus mit Bögen
beschossen. Weiter Aufmerksam machten wir den anderen Platz. Tankred
sicherte wie beim Abstieg nach hinten.
Gerade als wir uns geordnet in Bewegung setzen wollten um in Formation
den Tempel zu verlassen, schlossen sich donnernd die Tempeltore und es
kam Bewegung in die überall am Boden liegenden Knochen. Ich
hatte während der Borbarad Krise und der Dritten
Dämonenschlacht schon mehrfach die Erhebung von Untoten aus
viel zu großer Nähe beobachten müssen. Dies
hier ging viel schneller. Die Knochen schnappten mit einem Ruck
zusammen, und schon stürmte ein Skelett auf uns zu. Und aus
allen Seiten folgten weitere.
Wir waren Aufmerksam gewesen, aber Untote in einem Tempel des Boron?
Auch wenn dieser geschändet worden war, dies konnte mein
Verstand erst nicht verarbeiten. Doch musste ich zum Glück
nicht denken, sondern nur den Schild heben und Sonnensturm, meine treue
Ochsenherde schwingen. Mit dem Schlachtruf „Gratia, Ordinem,
Verum“, den Namen der drei vergoldeten und geweihten Kugeln
der Ochsenherde, vernichtete ich das erste Skelett mit wenigen Hieben.
Um mich herum begann der Kampf zu toben. In der Mitte hielten wir
schützend seine Gnade Praiodatus, denn er schützte
mit einem geliehenen Schild unseren größten Schatz:
Den letzten freien Funken des Ewigen Lichts. Dabei sang er mit klarer
Stimme, von dem tobenden Kampf unbeeindruckt, die Liturgie der Goldenen
Rüstung.
Etwas zu meiner Verwunderung. Denn wenn Untote das Licht des Herrn
nicht mochten, so behinderte es sie doch nur unwesentlich. Und der
blendende Schutz wirkte nicht auf Kreaturen, die SEIN Licht sowieso
nicht sehen konnten. Was keine Augen hat, kann nicht SEINE Gnade
erblicken… aber auch nicht geblendet werden.
Eines der Skelette war in zerfetzte Roben gekleidet und schwang einen
Magierstab. Ich hörte Yolande empört rufen:
„He! Wie konnten wir den Stab übersehen?“
Doch wer hatte schon die morschen Knochen durchsuchen wollen? Nachdem
ich am ersten Tag einen Kinderschädel gesehen hatte, hatte ich
die Überreste möglichst ignoriert.
Meine Gefährten und ich kämpften. Yolande kleidete
sich in eine hölzerne Haut und Blätter und
Blüten sprossen aus ihrem Haar. Ein Hauch von Wald schaffte es
für Sekunden den Geruch von Knochenstaub zu
überdecken.
Skelettratten stürmten auf sie ein und kletterten an ihr hoch,
doch knabberten sie vergeblich an der hölzernen Haut.
Im Hintergrund erhoben sich Bogenschützen, die uns unter Feuer
nahmen. Untote sollten für keinen Krieger der etwas auf sich
hielt ein Problem darstellen. Aber nicht nur waren diese schneller und
Kampfstärker als üblich, wo ein Skelett fiel, erhob
sich fast sofort ein anderes.
Trotzdem war ich zuversichtlich, dass wir standhalten konnten. Da
öffneten sich die Tore und Bürger der Stadt
strömten herein. Bewaffnet mit Mistgabeln, Stöcken,
Schmiedehämmern und den sonstigen improvisierten Waffen eines
treuen Bürgers, der Dienern des Herrn zu Hilfe eilen will.
„Brav“, dachte ich, da trat der Dunkle Lan vor:
„Das sind die Verbrecher! Sie erheben die Toten um sich vor
uns zu schützen! Tötet sie!“
Und wie um uns zu verspotten, drehten sich die übrigen
Skelette um und kehrten uns den Rücken zu. Ganz so, als
würden sie uns vor dem Mob verteidigen.
Mob und Untote stürmten aufeinander ein. Die Bürger
würden vermutlich siegen, doch nur unter Verlusten. Und dann
würden wir gegen Unschuldige kämpfen müssen,
die ein sichtlich beeinflusster auf uns hetzte. Oder war der Dunkle Lan
gar ein Verräter? Ein Mitglied der Hand der Rache gar?
Ich stürmte vor, den Skeletten in den Rücken. Drei
vergingen unter einem mächtigen Befreiungsschlag. Weitere
unter den nächsten. Doch immer noch erhob sich stets ein
weiteres mit dem zusammenschnappen von Knochen.
Hinter mir hörte ich Tankred Zauber sprechen. Dann ein
triumphierendes: „Hab ich Dich! Er ist unsichtbar an der
Decke! Ein Iriadzal Dämon, nicht der Meister, nur sein
Schatten.“
Ulfried visierte eine Gruppe der Bürger an und rief mit lauter
Stimme die Herrin Rondra an, seiner Stimme Macht zu verleihen:
„Geht!“
Zehn Bürger wankten, aber nur fünf wendeten sich ab
und wanderten verwirrt gegen den Strom des Mobs durch die Türe
hinaus.
Tankred wirbelte mit dem Stab herum. Es wirkte wie ein Tanz.
Später informierte er mich, dass er für seinen
Entschwörungszauber ein Pentagramm in den Dreck am Boden
ziehen musste.
Ich wusste nur, dass ich meinen Gefährten Zeit verschaffen
musste. Ich stellte mich gegen den Strom und hielt sie mit dem Schild
und reiner Sturheit auf.
Bevor Tankred mit seinem Zauber überhaupt beginnen konnte,
übertönte die Stimme von Praiodatus den
Lärm: „Du hast hier keine Macht!“
Das Dach begann zu beben und einzelne Schindeln und Dachbalken fielen
auf uns herunter. Deutlich gezielt von dem Dämon, den ich
immer noch nicht sehen konnte.
Nun hoben sich auch noch die Bodenplatten und mumifizierte
Hände griffen aus den Gräbern heraus. Zwei packten
mich und schafften es, mich zum stolpern zu bringen. Ich fiel und wurde
auf die Schlitze im Boden zugezogen, wo mir in engstem Raum mit den
irrsinnig starken Mumien ein schrecklicher Tod drohte.
In diesem Moment, als das Schicksal des Kampfes sich gegen uns zu
wenden drohte, donnerte Praiodatus im Einklang mit Emmeran, Ulfried und
sogar der immer wieder überraschend gut im Praiosglauben
ausgebildeten Yolande das Finale des Heiligen Bannstrahls:
„Ewiger Praios, Trenner von Recht und Unrecht, Dein
strafender Blick falle auf diese Kreatur der Niederhöllen. Es
SEI!“
Ein strahlender Lichtstrahl, so dick dass meine Arme ihn
hätten nicht umfassen können, donnerte aus dem
Nachthimmel auf eine Stelle unter dem Dach. Licht erfüllte mit
einem Schlag den Tempel. Wärme des Sommers und das
Gefühl, dass SEIN vernichtender Zorn sich gegen unseren Gegner
wendete. Die schattenhafte und körperlose Gestalt unter der
Decke wurde enthüllt und schrie unter dem Licht gepeinigt auf.
Dann zerbarst sie unter einer Explosion aus gleißendem Licht.
Ein Riss tat sich in der Luft auf und saugte die in reinigendem Feuer
brennenden Überreste zurück in die
Niederhöllen. Ich glaubte noch ein leises Wimmern zu
hören: „Ungerecht…“
Getrennt von ihrem Beschwörer, zerfielen die Skelette. Die
Bürger senkten verwirrt ihre Waffen und einige fielen vor
diesem Wunder des Herrn auf die Knie. Und recht so! Denn dieser
Bannstrahl trug die volle Macht des Herrn mit sich, wie ich es selbst
bei dieser mächtigen Liturgie noch nie gesehen hatte.
Der Dunkle Lan fiel auf die Knie und weinte.
Doch ein Mob der einmal in Bewegung gesetzt wurde, ist immer noch
gefährlich, auch wenn sein Anführer fällt.
Ich richtete mich auf und donnerte im besten Kasernenbefehlston:
„Der sei verdammt, der die Hand im Zorn gegen einen Diener
des Herrn erhebt! Geht heim und denkt über eure
Sünden nach. Hinfort!“
Beim letzten Wort blitzen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne
durch eines der Fenster und tauchten mich in ihren hellen Schein.
Selbst der dümmste Dualist verstand, dass hier seine
Anwesenheit nicht mehr erwünscht war. Eilig hob sich der
Pöbel davon.
Ihr Rückzug wurde kurz von dreißig Orks gebremst,
die von dem Lärm angelockt herbeigeeilt kamen. Als wir hinter
den Bürgern aus dem Tempel schritten, bemerkten sie an unserem
Gesichtsausdruck, dass wir gerade nicht für Gespräche
aufgelegt waren. Mit einem Nicken zogen sie sich wieder
zurück. Offensichtlich wurden sie gerade nicht gebraucht.
Zurück im Gasthof legten wir unsere Rüstungen ab und
verschafften uns einen Überblick über die
Verletzungen. Emmerans Zustand besorgte mich. Sein Skelett-Gegner war
explodiert und hatte ihn mit einem Hagel von Knochensplittern
durchsiebt.
Ich bat Yolande sich um ihn zu kümmern und ihn zu heilen.
Sofort fuhr mir seine Gnaden Praiodatus über den Mund:
„Keine Magie! Nicht hier, nicht jetzt! Wie könnt ihr
es wagen! Auf euer Zimmer und betet! Betet die Nacht durch!“
Seine Augen leuchteten noch von dem inneren Feuer das jene durchdringt,
welche die Macht eines Gottes durch ihren sterblichen Körper
lenken.
Ich senkte den Kopf und zog mich zurück. Wie befohlen
verbrachte ich die Nacht auf den Knien im Gebet. Wenn der Schlaf mich
zu übermannen drohte, setzte ich die Geißel ein.
Am Morgen wurde ich von den Knien gehoben und zum Waschtrog
geführt, wo ich mich frisch machte und etwas orientierungslos
meinen Gefährten hinterher wankte.
Offensichtlich fand noch ein Gerichtsverfahren stand. Langsam erinnerte
ich mich wieder an den Thorwaler Lars, der heute verurteilt werden
sollte.
Der Dunkle Lan hatte sich nicht her getraut, dafür schickte er
einen seiner Handlanger. Als Ankläger führte er eine
überraschend gute, wenn auch kurze Rede. Lars wurde mit der
Tatwaffe erwischt, er hatte die Tat praktisch gestanden und damit war
er schuldig.
Seine Gnaden Praiodatus kommentierte das mit dem klaren Hinweis, dass
die Meinung des Anklägers irrelevant war. Entscheident war die
Meinung des Gerichts.
Er klärte ab ob die Lex Wasslav, die Orkische Rechtsprechung
hier angewendet werden musste. Dies war laut dem Dunklen Lan nicht der
Fall, da die Rechtsprechung rein menschlicher Probleme den Menschen
offiziell überlassen worden war.
Praiodatus erläuterte nun den Sachverhalt mit der Beherrschung
durch den Dämon. Der Ankläger war nicht beeindruckt
und auch das Publikum hielt das ganze für eine Ausrede. Die
Stimmung drohte zu kippen. Mir wurde klar, dass wir nicht nur den
Richter, sondern auch die Anwesenden Bürger
überzeugen mussten, dass unser Urteil richtig war. Sonst
würden Zweifel an der Gerechtigkeit und der Genauigkeit der
Rechtsprechung des Herrn aufkommen. Das konnte auf keinen Fall
geschehen. Wir mussten also nicht nur für ein gerechtes Urteil
sorgen, sondern auch den Pöbel überzeugen, dass
dieses Urteil richtig und gerecht war. Sollten sie hinterher daran
zweifeln, wurden sie anfällig für den Einfluss des
Ungerechten. Und dann würden wir Wochen brauchen um die Stadt
zu rehabilitieren… oder notfalls auszulöschen.
Praiodatus rief unsere beiden Magier als Zeugen für die
Beherrschungsmagie auf. Yolande wurde aufgrund ihrer Jugend kaum ernst
genommen. Und die ungebildeten Bürger, die kaum jemals einen
Magier gesehen hatten, sahen die angebliche Beherrschungsmagie als
reine Ausrede.
Ohne mich mit meinem Vorgesetzten abzusprechen, wofür ich
sicher hinterher würde Buße tun müssen,
vergewisserte ich mich bei Yolande, dass diese zumindest einen der
halbwegs erlaubten Beherrschungssprüche beherrschte. Ich trat
vor die Menge und verkündete ein Experiment. Ich bot einem der
Bürger einen vollen Golddukaten an. Diesen würde er
behalten dürfen, wenn er ihn nicht freiwillig der Magierin
Yolande übergab. Ein freiwilliger fand sich schnell und keiner
der Anwesenden hielt es für möglich, dass er
tatsächlich das Gold wieder hergab. Seine Frau gab das Gold
sichtlich in Gedanken bereits aus, ihrem glänzenden Blick nach
zu urteilen.
Dann trat Yolande vor. Sie hatte während ich sprach bereits
irgend etwas mit „Attributos“ und
„Chrismas“ vor sich hin gemurmelt. Nun
hörte ich ein paar elfische Worte. „Banna Balla
Balla“ oder so ähnlich. Sie trat vor und
lächelte den Mann an. Nach ein paar Worten, fiel er auf die
Knie und bettelte geradezu darum, dass sie den Golddukaten als Geschenk
annahm. Gnädig kam sie der Bitte nach. Der Blick der Ehefrau
war mörderisch. Magie hin oder her, das würde heute
Abend noch ein langes Nachspiel geben. Mögen Praios und Travia
den Haussegen bald wieder herstellen!
Praiodatus erläuterte noch einmal, dass Lars nicht schuldig
sein konnte, wenn er keinen Einfluss auf seine Tat hatte.
Ich erinnerte die Bürger dann noch daran, dass sie vor kurzem
noch unter dämonischer Magie eine Gruppe von Geweihten
angegriffen hatten.
Der Ankläger widersprach. „Papperlapapp! Die
Umstände spielen keine Rolle. Lars hat die Tat begangen, also
ist er schuldig.“
Praiodatus erwiderte: „Dann bereitet euch auf eure Strafe
vor. Baldus! Dieser Mann hat einen Hochgeweihten des Herrn Praios mit
den Worten „Papperlapapp“ unterbrochen und
beleidigt. Wenn wir die Umstände völlig ignorieren,
ist das ein Verbrechen das mit dreißig Peitschenhieben
bestraft wird.“
Man einigte sich dann auf lebenslange Verbannung aus der Stadt. Lars
hätte hier sowieso keine Zukunft gehabt.
Später fanden wir noch einige interessante Fakten heraus.
Vor 20 Jahren, während dem Orkensturm, kam es zu dem bekannten
Zwischenfall im Boron Tempel bei dem sich alle gegenseitig umbrachten.
Wir stellten fest, dass die Orks damals die Kanope gefunden und
beschädigt hatten. Der Einfluss des Dämons
verursachte ein Massaker. Die letzten Orks schafften es die Kanope
wieder zu schließen und zurück zu stellen. Doch das
Siegel war beschädigt. Und dunkle Träume sickerten
heraus.
Vor einigen Monaten ging der Sohn des Dunklen Lan unter dem Einfluss
dunkler Träume in den Tempel und öffnete die Kanope.
Und nun war Bal-Iriadzthal frei.
Seltsamerweise behaupteten unsere Magier, dass sowohl der
große Dämon als auch seine niederen
Dienerdämonen jeweils sechs Hörner hatten. Die
Dämonen hielten sich einfach an keine Regeln.