Bericht des Renegaten Rodrigo Manitas Calvazado
25. Tsa 1031 BF
Nach dem Kampf mit den Feuerfliegen gab es eine kleine Siegesfeier, was
Helmbrecht und Murthakh zum Anlass nahmen, sich ordentlich unter den
Tisch zu saufen. Währenddessen kursierten die wildesten
Theorien darüber, was in den restlichen Schwarm gefahren sei,
dass er plötzlich von uns abließ, in Formation ein
wenig weiter weg flog und sich anschließend im Gras
niederließ, um von uns abgeschlachtet werden zu
können. Bruder Travinor und Pyglaion pochten am ehesten auf
ein Wunder der Tsa oder Peraines. Um weiter von Alraun abzulenken,
bestand Rodrik aber darauf, den Fliegen sei wohl einfach nur kalt
gewesen.
26. Tsa 1031 BF
Beim Frühstück gingen wir unsere heutige Wegstrecke
durch. Bei unserem bisherigen Tempo würden wir heute die
Fähre über den Darpat und kurz danach Wehrheim
erreichen.
In der Mitte des Vormittags trafen wir auf einen Trupp Bannstrahler. De
nuevo! Coño, hat man vor denen denn niemals seine Ruhe? Ich
hatte keine Lust, dass auch diese ein Bündel Steckbriefe
durchgingen und ich rein zufällig wieder unter den
verdächtigen Kandidaten war. Sie suchten zwar nach
Häretikern, Hexen und Schwarzmagiern, aber es war mir zu
riskant. Und auch Rodrik, der zwar von einer grauen Akademie stammt,
aber durchaus Fragen ausgesetzt gewesen wäre, warum er sich
nicht gemäß Codex Albyricus kleide, wollte diesen
Extremisten nicht gegenüber treten. So schlug er sich
ebenfalls in die Büsche. Branje war blass geworden, fast schon
kalkweiß und hatte genau denselben Gedanken wie ich: Was,
wenn die Bannstrahler Steckbriefe dabei hatten? Rodrik war
geistesgegenwärtig genug, auch sie mit in unser Versteck zu
nehmen. Ich fluchte kurz, dass ich nicht auf diese einfache Idee
gekommen war. Ich war eindeutig zu lange alleine unterwegs gewesen!
Alraun versuchte sich möglichst unauffällig unter die
Reisenden zu mischen. Als Druide könnte man ihn
tatsächlich zu den gesuchten Häretikern
zählen. Niam hingegen sah ich überhaupt nicht mehr.
Wahrscheinlich war auch sie in die Büsche gegangen.
Der Anführer der Bannstrahler ließ die Umgebung
absuchen, aber diese Anfänger waren kein ernst zu nehmendes
Problem für uns. Derweil ließ er die Reisenden sich
in einer Reihe aufstellen. Dann zog er ein Amulett in Form eines
Sonnensymbols hervor und ging die Reihe ab. An den Ochsen kam er nicht
vorbei. Das wäre interessant geworden, denn ich erinnere mich,
dass der ganz prächtige Ochse Otto irgendwie komisch war.
Person um Person kam der Bannstrahler jedenfalls Alraun immer
näher. Bevor er den Druiden jedoch erreichte, schlug das
Pendel plötzlich bei einem anderen Mann aus. Es war Hugo, ein
Bauer aus der Umgebung Gareths, dem ein Stück der fliegenden
Festung buchstäblich die Ernte verhagelt hatte, auf seinem
Landstück wahrscheinlich für immer. Der sollte ein
Hexer sein? Jamas y nunca, nie und nimmer!
Wir drei um Versteck und auch die gesamte Reisegruppe hielten den Atem
an. Um den Mann postierten sich sofort vier Bannstrahler. Der
Anführer holte nun einen Metallstab hervor, mit dem er den
Verdächtigen antippte. Dann verkündete er:
„Keine Schwarzmagie!“ und schien fast etwas
enttäuscht zu sein. Hörbar stießen alle
ihre Erleichterung aus. Der Anführer fixierte Hugo und befahl
ihm mit strenger Stimme: „Geh in den nächsten
Praiostempel und lass dir die schändliche Magie
ausbrennen!“ Hugo nickte gehorsam und antwortete:
„Ja! Ja, das mache ich!“, doch mir war klar, dass
er die gleichen Gedanken hatte wie ich: „Besa mi culo,
capullo!“, nur auf Garethisch: „Küss
meinen Hintern, Arschloch!“
Dann ging der Anführer die Reihe weiter ab. Er war nur noch
zwei Leute vor Alraun, als plötzlich die alte Minerva aus der
Reihe trat, ihren Arm hoch erhoben. In ihre Hand flog ein
längerer Stecken, der wie ein Wanderstock aussah. Damit schlug
sie dem Bannstrahler ins Kreuz, stieg auf den Stock und stieß
sich ab. Sie flog höher und kreischte: „Ihr werdet
mich niemals kriegen!“ Dann brauste sie von dannen.
„Ihr nach!“ schrie der Anführer. Sofort
nahmen die Bannstrahler die Verfolgung auf und rannten Minerva auf
ihrem Wanderstock hinterher. Alraun stand die Erleichterung deutlich
ins Gesicht geschrieben. Er war ziemlich blass geworden, als der
Anführer den Metallstab ausgepackt hatte.
Während das Gezeter der Bannstrahler leiser wurde, atmeten wir
anderen auf. „Das erklärt das Verhalten der
Feuerfliegen gestern! Minerva war’s!“, sprach Niam
in die Stille. Wo kam die denn so plötzlich her? Einer der
Flüchtlinge rief erschrocken: „Oh nein! Und wer
kocht jetzt für uns?“
Rodrik, Branje und ich gingen jedenfalls aus unserem Versteck wieder
zum Zug. Sie hauchte ihm leise ein „Danke!“ ins Ohr
und einen Kuss auf die Wange. Ich muss wohl mal stärkere
Geschütze auffahren!
Nicht einmal zwei Stunden später, es war kurz vor der
Mittagsrast, sahen wir in einiger Entfernung grob ein Dutzend
Wegelagerer am Wegesrand herum lungern. Als sie unseres Zugs gewahr
wurden, standen sie auf und positionierten sich so, dass sie den Weg
blockierten. In unserem Zug verteilten sich die Bewaffneten ebenfalls
taktisch.
Als unser Zug weit genug an die Gruppe herangekommen war, ergriff deren
Anführer das Wort: „HALT!“ Er sah aus wie
eine Bulldogge, hatte ein kurzes Hemd an, was für diese
Jahreszeit schon ungewöhnlich war. An seinen sonst baren Armen
waren je eine Ledermanschette geschnallt.
„Was haben wir denn hier? Sieht aus wie ein Wagenzug des
Dreischwesternordens. Wir sind doch auch bedürftig, nicht,
Jungs? Wir haben seit drei Tagen nichts gegessen und haben
Hunger!“ Seine Leute pflichteten ihm lebhaft bei. Murthakh
grummelte, es war deutlich, dass er kurz davor stand, dem
Anführer seine Bedürftigkeit zwischen die
Zähne zu rammen. Helmbrecht ergriff das Wort: „Wir
müssen uns kurz beraten, zieht doch euren Knabenchor ein wenig
zurück!“ Er, Bruder Travinor, seine Gnaden Pyglaion,
Herdfried von Binsböckel und Hasrulf von Baliho zogen sich
tatsächlich zu einer Beratung zurück. Es war klar,
dass für unser Ziel Wutzenwald nichts übrig bliebe,
wenn wir sämtliche Bedürftigen auf unserem Weg
versorgten.
Plötzlich ging Alraun zum Anführer und stellte ihn
zur Rede: „Schämt Ihr Euch denn gar nicht? Ihr seht
alles andere als verhungert aus. Wir sind auf einer heiligen Queste
unterwegs, um ein Dorf mit Saatgut und anderem zu unterstützen
in der ungastlichen Wildnis der Wildermark, und ihr habt nichts
Besseres zu tun, als dieses hehre Ziel zu zerstören! Ihr
solltet Euch ernsthaft etwas schämen!“
Ich erwartete, dass der Anführer samt seiner Gruppe in
schallendes Gelächter ausbrach, jedoch passierte zu nicht nur
meiner großen Verblüffung genau das Gegenteil: Der
Anführer schniefte erst und brach dann mit einem lauten
„Es tut mir Leid!“ in Tränen aus.
„Los!“, befahl er, „Gebt den Weg
frei!“ Seine Männer taten verdutzt erst einmal wie
geheißen. Der dicke Ochse Otto muhte befehlend, und der Tross
setzte sich in Bewegung, dieses Mal sogar ein wenig schneller als
zuvor. Ich sage ja, es curioso, irgendwas ist komisch mit dem!
Immer leiser wurde der Streit der Wegelagerer, der daraufhin
entbrannte. Offenbar wurde die Rangordnung unter den Typen neu
bestimmt, die Schimpftiraden und Geräusche der
Schlägerei ließen vor allem diesen Schluss zu.
Unterdessen war seine Gnaden Pyglaion an Alraun heran getreten.
„Ich weiß ja nicht, wie ihr es geschafft habt, den
Funken der Herrin Travia in diesen Schlagetots zu entfachen, aber seid
vielmals bedankt dafür! In Zukunft dürft ihr immer
die Verhandlungen führen.“ Alraun lächelte
gequält ob dieser Aussicht, bedankte sich aber trotzdem artig.
Am Nachmittag trafen wir dann auf eine Patrouille von etwa 15 Mann der
Wehrheimer Waldlöwen. Sie gaben uns Geleitschutz. Von Rodrik
auf die Wegelagerer angesprochen und warum sie diese so nah an ihrem
Einflussgebiet duldeten, antworteten sie, es sei besser, diese relativ
harmlosen Kerle zu dulden, die sich in der Regel mit
Einschüchtern, einer Tracht Prügel oder einer
Schnittwunde Respekt verschafften und von Reisenden nur einen
„angemessenen“ Zoll forderten, anstatt richtigen
Halsabschneidern, die sämtliche Reisenden einfach umbrachten,
die Straße zu überlassen.
Auf dem Weg zur Fähre über den Darpat setzten uns die
Waldlöwen über die Lage in Wehrheim in Kenntnis.
Wehrheim ist während des Jahrs des Feuer praktisch komplett
zerstört worden, im Magnum Opus des Weltenbrands, oder
kürzer: im Weltenbrand. Von den ursprünglich mal
zwölf- bis vierzehntausend Einwohnern sind nur noch 700
übrig; etliche von ihnen gehören zur Truppe Leomars
vom Berg. Leomar Almaderich Sigiswild vom Berg wird von allen nur
„der Marschall“ genannt. Und eben dieser Marschall
hat die Burg Wehrheims in Beschlag genommen, seine Leute sind in den
noch brauchbaren Ruinen der ehemals stolzen Stadt unter gekommen. Die
verbliebenen Wehrheimer hatten es ihnen gleich getan und sich in den
übrigen noch bewohnbaren Ruinen häuslich
eingerichtet. Für unseren Zug würde wohl kein
Gebäude bewohnbar sein, dafür wären wir viel
zu viele. Und in der Nacht sollte man besser in festen vier
Wänden Unterschlupf finden: Geister, Ghule und Untote machten
die Straßen unsicher in der Zeit, in der das Praiosmal sein
Antlitz verbarg. Den Norden der Stadt sollten wir daher besser meiden.
Dort sei die Zerstörung am größten und die
unheiligen Kreaturen am umtriebigsten.
Der Marschall herrschte über das Gebiet Wehrheims. Er hatte
genügend Leute, um sein Gebiet notfalls zu verteidigen. Da er
jedoch keinerlei Ambitionen hegte, sein Herrschaftsgebiet zu erweitern,
wurde tatsächlich auch sein Gebiet von den umliegenden
Kriegsherren der Umgebung geachtet. Diese Kriegsherren
bestünden wohl zu gut und gerne drei Vierteln aus
Schwarzmagiern, Druiden, Hexen und ähnlichem Gesindel. Das
erklärte auch genau, wonach die Bannstrahler gesucht hatten.
Es hieß, einer der Kriegsherren befehligte einen Golem,
geradezu ein Monster, was von schwarzer Magie erfüllt war.
Rodrik machte sich eifrig Notizen hierzu.
Die beste Schänke sei „die Höhle des
Löwen“. Im Gespräch wurde Niam dann auch
das Initiationsritual beschrieben und versucht, ihr das Ganze
schmackhaft zu machen. Sie müsse schließlich nur
einen Becher Löwenbiss trinken. Weiß der Borbarad,
was die Typen einem da so einschenkten!
Gegenüber dem Rondratempel hatte wohl ein Korgeweihter namens
Arabul Neunhieb einen Korschrein neben seiner Behausung aufgestellt.
Auf meine Frage, wovon die Leute hier denn lebten, wurde mir der
Söldnermarkt als Umschlagplatz für Waren aller Art
beschrieben. Hier fände man so ziemlich alles, womit sich in
diesen Landstrichen Profit machen ließ. Außerdem
Gerüchte, haufenweise Gerüchte! Wahrscheinlich war
der Markt die größte Gerüchteküche
im Umkreis vieler Meilen.
Es dämmerte bereits, als die Fähre in Sicht kam. Die
Fährfrau Ele Rattel erklärte, für
Pilgersleut nähme sie kein Geld. Das Gelände zeugte
inzwischen davon, dass die Geschichten über den Weltenbrand
keineswegs übertrieben waren: Überall war die Erde
aufgebrochen, Spalten und Löcher durchzogen die Landschaft.
Nachdem wir über den Darpat gesetzt hatten, passierten wir das
Südtor, auch Kaisertor genannt. Nach kurzer Zeit passierten
wir die Schänke Borracho Del Sangre, also Blutsäufer.
Dort machten sich einige Söldlinge über unseren Zug
und insbesondere Bruder Travinor lustig. Doch, obwohl die Sticheleien,
die bei „du leckeres Stück
Gänsebraten“ noch lange nicht endeten, sich vor
allem gegen Bruder Travinor richteten, war es Herdfried, der von
Travinor beruhigt werden musste. Es war völlig offensichtlich,
dass die Söldlinge nur Streit suchten.
Außer Hörweite des Borrachos hielt unser Zug an.
Niam, Rodrik, Alraun und ich machten uns auf die Suche nach einer
geeigneten Herberge. Dabei mussten wir uns auf unserer Suche immer
weiter nach Norden wenden. Gegenüber eines Kontors, das an
sich recht geeignet aussah, sprach uns ein Typ an. Er meinte, das
Kontor wäre ein guter Lagerplatz für unseren Zug; wir
müssten nur dort drinnen „kurz mal
aufräumen“. Rodrik besah sich den Bau als erstes mit
seinem Käfergolem. Er meinte, es seien keine astralen Muster
zu erkennen, wohl aber etliche mit Lebenskraft erfüllte
Gestalten in Menschengröße, so zwanzig oder mehr.
Mit einer Fackel betraten wir das Gebäude und sahen uns um. In
den Schatten drückten sich tatsächlich weit mehr als
zwanzig Gestalten herum; den Geräuschen nach zu urteilen
vielleicht Ghule. Ich wurde sehr nervös. Zwanzig Ghule und
mehr, wie sollten wir das schaffen? Rodrik verlangte laut, den
Anführer zu sprechen. Unterdessen bemerkten wir jeweils
fünf Gestalten, die sich an den Wänden entlang
drückten, um uns einzukreisen. Als Rodrik laut sagte, er
würde beide Gruppen deutlich erkennen, stießen diese
einen Schrei aus, und rannten auf uns zu. Das war zu viel!
Während Rodrik eine Lichtkugel hinter uns taghell explodieren
ließ und Alraun noch eine Hand voll Dreck in einen magischen
Sturm verwandelte, hetzten wir zurück durch die Tür
und schlugen sie hinter uns zu. Der Typ, der sagte, wir
müssten nur „aufräumen“ sagte
dazu nur: „Schade! Ich hatte gehofft, ihr könntet
damit fertig werden!“
Wir zogen weiter. Plötzlich hörten wir das Weinen
eines Kindes, das um Hilfe und nach seiner Mama rief. Wir gingen hin.
Vor einem Schutthaufen kniete ein durchscheinendes Mädchen und
forderte seine Mutter immer wieder auf, doch bitte aufzustehen. Als wir
näher kamen, blickte es Alraun an. „Ich bin Alrike.
Hilfst du mir? Sie ist da drunter.“
Wir räumten den Schutthaufen zur Seite. Darunter befand sich
ein reichlich verwester Körper, der bestialisch stank. Alrike
beugte sich zu dem Skelett. „Beweg dich doch!“
Ausgerechnet jetzt fühlte sich Rodrik berufen, ihren Wunsch zu
erfüllen. Qué tontería! Er hob seinen
Stab und wirkte einen Zauber, der das Skelett sich erst aufrichten und
dann aufstehen ließ. Alrike kreischte schrill auf und
krabbelte auf allen Vieren rückwärts durch die
nächste Wand. Verblüfft sah Rodrik Alrike nach und
erklärte, er hätte gedacht, dass sie vielleicht
erlöst wäre, wenn sie mit ihrer Mutter noch einmal
spielen kann oder so. A ver, der Gedanke war nicht ganz abwegig. Niam
hielt einen Sack auf, und Rodrik ließ das Skelett dort hinein
klettern und sich hinhocken, dann verschlossen wir den Sack und sagte
Alrike, sie könne heraus kommen. Sie guckte vorsichtig aus der
Wand – buchstäblich. Alraun sagte ihr, es
täte ihm Leid, aber ihre Mutter sei wohl tot.
„Dann“, antwortete das Mädchen,
„soll sie zum Tempel und dort ihre Ruhe und den Weg nach
Alveran finden“
„Tempel?“ Alraun guckte ratlos. „Gut, wir
können sie zum Rondratempel bringen.“
„Nein, nein, nicht doch da hin!“, erwiderte Alrike.
„Mit Rondra hatte Mama es sowieso nicht so. Nein, zum
Traviatempel soll sie“, meinte sie bestimmt. Jetzt guckten
wir alle verblüfft. „Traviatempel? Wo soll denn der
denn sein?“, fragte Rodrik sie. „Ich bring euch
hin“, antwortete sie, sprang auf und ging los. Wir folgten
ihr.
Nach ein paar Straßenecken erreichten wir ein
größeres Haus, in dem durchaus der ganze Wagenzug
ein Nachtlager finden konnte. Der Spitzname der Söldner
für den Tempel war das „Gasthaus zur angesengten
Gans“. Es handelte sich um eine ehemalige Taverne, die zu
einem Traviatempel umgebaut worden war. Als Wehrheim in den Weltenbrand
geriet, brannte auch der Tempel ab. Jedoch standen die Grundmauern noch
stabil; auch das Dach hielt durchaus weiterhin der Witterung stand.
Alrike klopfte an die Tür. Eine Geisterfrau öffnete
ihr. Die Frau stellte sich als Mutter Walbrig vor, die Traviageweihte
Wehrheims, unglücklicherweise schon tot. Ihr Anblick zeigte,
dass ihr vor ihrem Tod schreckliches widerfahren war. Im Tempel selbst
brannte im Kamin ein geisterhaftes Feuer. Ihr Ehemann, Vater Linnert,
sah ebenfalls furchtbar aus: Offenbar war ihm ein Teil des
Schädels mit einem Morgenstern ausgeschlagen worden.
Qué horror!
Die beiden fragten uns, woher wir denn kamen; das Übliche
halt, wenn man sich einander vorstellt. Sie boten unserem Zug den
Tempel zur Nacht an. Wir mussten das noch mit Bruder Travinor
klären, waren aber einigermaßen zuversichtlich, die
Einladung annehmen zu können. Von den Geistern eines
geschändeten Travia-Geweihten-Paares eingeladen zu werden, als
sei dies das Normalste auf Aventurien überhaupt, war auf eine
gruselige Weise seltsam irreal. Trotzdem nahmen wir die Einladung an.
Es wurde bald dunkel, und was hätten wir sonst tun sollen?
Trotz ihrer grässlichen Erscheinung, schienen die sich Geister
der Geweihten Freundlichkeit und Fürsorge bewahrt zu haben.
Dann legten wir die Gebeine von Alrikes Mutter in das Geisterfeuer. Die
drei Geister als auch Rodrik, Niam und ich knieten uns hin und beteten,
Travia möge die Tote barmherzig in ihr Reich aufnehmen. Direkt
nach dem Gebet wurde Alrike immer durchsichtiger, bis sie mit einem
letzten gehauchten „Danke!“ verschwunden war. Ich
bin mir sicher, nun ist sie nicht nur erlöst, sondern direkt
in Travias Gefilde in Alveran eingegangen.
Zurück beim Wagenzug berichteten wir Bruder Travinor, dass wir
eine Möglichkeit gefunden hatten. Bei dem Tonfall, den vor
allem Rodrik anschlug, vermutete er jedoch einen Pferdefuß.
Nach einigem Rumdrucksen sagte er schließlich, dass es sich
um einen Tempel mit Geistern handelte. Als er erwähnte, um wen
es sich handelte, war Bruder Travinor zunächst
verblüfft, dann aber überzeugt davon, diese armen
Seelen ebenfalls erlösen zu wollen. Vamos a ver si
será posible.
Jedenfalls gingen wir zum… ist das jetzt ein ehemaliger
Tempel, wenn die Tempelvorsteher zwar Geister aber in ihrer Funktion
prinzipiell immer noch aktiv sind? Sea lo que sea, keiner im Zug hatte
Einwände gegen eine Nacht im ehemaligen Traviatempel, selbst
wenn die beiden Geweihten Geister waren. Mutter Walbirg erwartete uns
bereits mit einer gedeckten Tafel. Alle Teilnehmer unseres Zuges
bemühten sich, sich ihr Erschrecken bzw. ihre Furcht vor den
grässlich zugerichteten Geistern nicht anmerken zu lassen.
Vater Linnert stand am Herdfeuer und kochte bereits einen leckeren
Eintopf. Das wäre er zumindest gewesen, wenn es sich nicht bei
Tellern, Besteck, Gläsern, Speis und Trank um
Geistererscheinungen gehandelt hätte.
Wir setzten uns alle an die Tafel und sprachen ein Tischgebet an die
Herrin Travia. Dann versuchten wir, irgendwie das Besteck zu benutzen.
Einige schafften es, das Besteck mit ihrem Geist aufzunehmen, sogar zu
„essen“. Es schmeckte jedoch nicht, sondern weckte
eine Erinnerung an gutes Essen. Schließlich kam jemand auf
die Idee, reales Essen in die Geisterspeisen zu legen und das zu essen.
Es dauerte nicht lange, bis auf diese Weise alle etwas zu essen hatten.
Den Geister-Geweihten schien es nichts auszumachen.
Vor dem Nachtlager bestattete unsere Gruppe noch die sterblichen
Überreste von Alrikes Mutter. Bruder Travinor hatte
unterdessen ein Gespräch mit Mutter Walbirg. Sie
erklärte ihm, dass die Erlösung für sie und
ihren Mann darin fanden, wenn ihre Mörder reuig
zurückkehren und um Vergebung bitten würden oder wenn
alle Einwohner Wehrheims einen Tag lang nach den Geboten Travias
lebten. Es müsste jedoch ehrlich Reue sein, ein erzwungenes
„bereue, und ich lasse dich nicht langsam und qualvoll
sterben“ reichte ihr nicht aus.
Von ihren Mördern waren tatsächlich vier noch am
Leben. Sie alle hatten auf der Seite der Heptarchen gekämpft.
Einer der vier hielt sich tatsächlich in der Stadt auf. Wir
bekamen eine Richtung und Entfernung vom Traviatempel aus und eine
Beschreibung des schuldigen Söldners. Doch die Entscheidung,
wie wir nun verfahren würden, überschliefen wir.