Reise-Erinnerungen des Ardo Askirson von Zolipantessa


Kurz vor der Abreise in Zze’Tha

Nachdem wir Pardona und den Erben des Zorns vernichtet hatten, dauerte es eine ganze Weile, bis wieder Ruhe in Zze’Tha einkehrte. Die Globule stabilisierte sich immer mehr. Die Sphärenbeben wurden immer seltener und hörten schließlich ganz auf, als keine weitere Astralkraft mehr von Dere in die Globule geleitet wurde.

Die Elfen, welche den Übergang nach Dere bewachten, hatten die allermeisten Nachtalben abgemurkst, bevor diese die Globule hatten verlassen können. Nur wenige waren zusammen mit Gabijanaar entkommen. Dass die dem Namenlosen-geweihte Drachin entkommen war, ärgerte mich. Ihre erfolgreiche Flucht, war der einzige Schandfleck auf einem ansonsten makellosen Sieg – auch wenn dieser viele Opfer gekostet hatte.

Nachdem es nichts mehr zu tun gab, verließen die Drachen mit ihrem jeweiligen Gefolge einer nach dem anderen die Globule wieder, jedoch nicht ohne vorher noch ein wenig zu plündern. Dies führte selbst dem fanatischsten Drachenanhänger unter den hier lebenden Achaz vor Augen, was eine erneute Herrschaft Pyrdacors bedeutet hätte.

Somit wurden wir Drachenrufer überall mit einer Mischung aus Angst und Respekt behandelt. Keiner verspürte Lust sich mit uns anzulegen, dafür hatten zu viele miterlebt, wie wir Pardonas Schergen und schließlich sie selbst abgeschlachtet hatten. Aber es war klar, dass alle es kaum erwarten konnten, bis wir endlich wieder verschwanden. Doch zuerst plünderten auch wir was Oszandarras Nachlass in der Goldenen Pyramide hergab. Seltsamerweise hatten uns die Drachen diese quasi exklusiv überlassen. Alles was wir nicht brauchen konnten, tauschten wir mit den Einheimischen. Es ging teilweise zu wie in einem tulamidischen Basar. Insgesamt erbeuteten wir Wertgegenstände für etwa 1200 Dukaten pro Kopf. Damit würde ich endlich den Rest meiner Schulden bezahlen können – und noch einiges übrig haben für ein recht sorgenloses Leben für viele Jahre. Ich musste mir wohl oder übel überlegen, was ich denn damit zukünftig anfangen wollte, nun da unsere große Aufgabe vollbracht war.

Bpevor auch wir die Globule verlassen wollten, sammelten wir unsere zahlreichen Verbündeten, um zu besprechen, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Denn nicht alle waren froh in der Globule leben zu müssen. Die Elfen wollten die Globule so schnell als möglich verlassen, sie hassten den Dschungel und konnten es kaum erwarten nach Dere zu gelangen. Die Sonnenlegionäre waren da etwas vorsichtiger. Sie wählten einige Vertreter, die uns begleiten sollten, um das unbekannte Terrain zu erkunden und später zu entscheiden, ob sie lieber in Zze’Tha bleiben oder ebenfalls nach Dere übersiedeln wollten. Ihre Ansicht über den Platz des Praios-Glaubens und seiner Priester auf Dere entsprach nicht mehr wirklich der heutigen Realität.
Auch einzelne Gornger trafen die Entscheidung die Globule zu verlassen, doch die Mehrheit des Stammes wollte hier „unter“ ihrem Berg bleiben. Nach dem gemeinsamen Kampf gegen Pardona stand zu erwarten, dass Gornger und Echsen zukünftig vielleicht einen friedlicheren Umgang pflegen würden.

Meister Rakorium und Rak’T’Gonus waren beste Freunde geworden. Etwas was ich dem alten Zausel niemals zugetraut hätte – denn wer hatte denn immer vor „der großen Echsenverschwörung“ gewarnt. Nun gut. Recht hatte er ja prinzipiell gehabt, doch war die Verschwörung ja nicht wirklich von den Echsen in Zze’Tha ausgegangen. Jedenfalls versprachen die beiden einander, regelmäßig in Kontakt zu bleiben und beide dafür Sorge zu tragen, dass die Menschen möglichst nicht nach Zze‘Tha und die Echsen nicht nach Dere kommen würden.

Auch Ji’An’Jazz wollte in der Globule bleiben. Er ging sogar soweit, dass er uns zu seinem echten und wahren Körper führte. Er hatte unsere Theorie mitbekommen, dass er Magie zum Körpertausch benutzen würde. Der Gedanke war für ihn unerträglich, dass wir im Glauben auseinandergehen könnten, dass er sich per Seelenwanderung immer wieder neue Echsen- oder Menschenkörper „gestohlen“ hatte. Tatsächlich benutzte er diesen Zauber nur, um seine Angelegenheiten in den Körpern anderer zu regeln. Und zwar ausschließlich denen von Freiwilligen. Ich war fast etwas enttäuscht. Ich hatte wirklich angenommen, dass er unter anderem deswegen sein Fzmech-Zuchtprogram ins Leben gerufen hatte, um sich immer wieder mit neuen, kräftigen, jungen Körpern zu versorgen und sich dabei mit den einigermaßen gutaussehenden Menschenfrauen selbst zu vergnügen. Nur mit dem zweiten Teil hatte ich recht. Tatsächlich benutzte er ein uraltes Ritual der örtlichen Z'zah Geweihten, mit denen er sich verbündet hatte. Mächtige Heilmagie ermöglichte ihm es zu überleben, sich regelmäßig alle paar Jahre rituell zu häuten. Auch er wollte hierbleiben, nachdem sein Leben auf Dere schon lange Zeit vorbei war. Hier war nun sein Zuhause und das Zentrum seiner Macht. Und nur hier gab es die Z’zah Geweihten mit deren Hilfe er unsterblich war.
Das Ritual war nicht ohne Nebenwirkungen verlaufen. Es hatte mit der Zeit dazu geführt, dass sich seine Haut derer der Echsen angeglichen hatte. Sie war schuppig und verhornt.

Schließlich sammelten wir uns vor dem Übergang nach Dere. Ich konnte es kaum erwarten, wieder „nach Hause“ zu gelangen, doch es war mir bewusst, dass ich eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen hatte. Diese betraf mein zukünftiges Leben und wie ich es gestalten wollte…  Yolande. Diese Frau!

Insgeheim hatte ich schon eine ganze Weile darüber nachgedacht, was ich tun sollte. Denn ich musste mir eingestehen, dass ich sie doch sehr gerne mochte und es nicht sehr fair war, ihre Zuneigung für erquicklichen Beischlaf auszunutzen, ihr das aber vorzuenthalten, was sie gerne wollte: Einen Ring am Finger. Doch auf der anderen Seite, kannte ich mich: Ich wusste nur zu gut, dass mir eine einzige Frau nicht genug war, auch wenn sie noch so gut im Bett war. Ich würde einfach nicht travia-gefällig treu sein können, sobald ich der nächsten gutaussehenden Frau begegnen würde, dessen war ich mir sicher.

Was also sollte ich tun? Guter Rat war teuer. Sie einfach zu fragen, das erschien mir … irgendwie zu banal. Würde sie mir das überhaupt abnehmen? Es müsste so aussehen, als ob ich einmal mehr übermütig geworden sei und mich selbst hereingelegt hätte. Nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, hatte ich eine Idee.

Wie wir also so vor dem offenen Tor nach Dere standen und uns vor unseren Verbündeten verabschiedeten, trat ich vor meine Freunde und sprach mit großspurigem Auftreten: „Wisst ihr, was mich wirklich interessieren würde, meine Freunde, ob die Götter tatsächlich auf uns herabsehen und Notiz von unseren Taten nehmen.“ Die übrigen Ritter starrten mich verblüfft und sprachlos an, ganz so wie erhofft.

Ich zog einen wirklich schönen Edelstein, den größten aus meinem persönlichen Anteil, aus meiner Tasche und hielt ihn absichtlich mit der linken Hand hoch, damit die übrigen Ritter nicht etwa denken sollten, dass der Phex-geweihte Handschuh an meiner Rechten etwas mit dem zu tun haben würde, was nun kommen sollte. Doch ich war sehr, sehr aufgeregt. Würden meine Freunde nun endlich merken, wer – besser gesagt – was ich war?
„Deshalb wette ich mit Dir, Herr Phex“, rief ich laut und mit vor Aufregung zitternder Stimme, „dass ich Yolande nicht um den Rahjabund bitten werde, wenn Du diesen Stein annimmst!“ Dann wirkte ich murmelnd die Liturgie Phexens Elsterflug und warf den Edelstein lässig nach oben. So flog er dann auch… höher… und immer höher, der Schwerkraft trotzend und ohne Anstalten zu machen, je wieder herunter fallen zu wollen! Der Nebel des Limbus öffnete sich und einen Moment war der Sternenhimmel zu sehen, an dem sich nun ein neuer Stern einfügte.

Während der Stein immer höher stieg, war es für mich, als würde Satinav jede Sekunde zu einer Minute dehnen. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Gorgner „FEKOR, FEKOR!“ brüllen und blickte in die verblüfften und ungläubigen Gesichter meiner Gefährten, während diese ebenfalls dem Stein nachstarrten. Einzig Yolandes Gesicht spiegelte Gram und Enttäuschung wieder – warum denn? Hatte ich ihr nicht eben…? Da klangen meine eigenen Worte abermals durch meinen Kopf… „dass ich Yolande NICHT um den Rahjabund bitten werde…“  wie? … NICHT?!  Verdammte Axt! Was hatte ich da angerichtet?! Jetzt hatte ich mich doch hereingelegt, aber auf eine Art und Weise, die ich gar nicht beabsichtigt hatte! Oh, ich dummer Idiot!

Alle starrten mich an, als wäre ich der letzte Mensch. Irgendjemand sagte: „Da hat anscheinend wirklich jemand was dagegen, Ardo, dass Du Yolande heiratest.“ Und ich blickte dem winzigen Stern nach, vor dem sich nun wieder der Nebel der Globule schloss und es herrschte nur noch Leere in meinem Kopf.

Yolande blickte mich mit einer Mischung aus Gram und Enttäuschung an. Wie durch einen Schleier nahm ich wahr, dass Rakorium traurig auf sie und mich zutrat und leise vor sich hin zeterte: „Oh Kinder, was macht ihr mir denn so einen Kummer und stellt Euch so dämlich an? Ich hatte fest damit gerechnet, dass ihr beiden am Ende den Bund eingehen wollt und Euch extra diese hier gefertigt:“ und zu meiner größten Verblüffung – woher hatte er meine Absicht wissen können? – überreichte er jedem von uns einen wunderschönen Ring, aus Gold und Silber, verschlungen ineinander. „Ich habe diese Ringe extra für Euch gefertigt. Sie sollten Eure Eheringe sein. Falls ihr einmal getrennte Wege gehen müsst, so sollten sie Euch zeigen, dass es Eurem Liebsten gut geht. Sie zerbrechen, wenn der andere stirbt.“

Ungläubig starrte ich auf den Ring in meiner Hand und blickte dann zu Yolande. Diese schluckte heftig, während sie mich mit kalkweißem Gesicht anblickte: „Ardo, dann frage ich eben Dich“ sagte sie mit ebenfalls zitternder Stimme, „willst Du mit mir den Travia-Bund eingehen?“
„Den Travia-Bund? Ich?“ antwortete ich entgeistert, „spinnst Du?“ Ich schüttelte den Kopf. Zu meiner Überraschung wirkte sie zwar enttäuscht, sah aber irgendwie auch so aus, als hätte sie das erwartet. Offenbar hatte sie mich dies als Provokation gefragt, denn aus wahrer Hoffnung. Oh Yolande, hättest Du nicht nach dem Rahja-Bund fragen können, dann hätte ich tatsächlich ‚ja‘ gesagt. Aber den Travia-Bund? Da könnte ich doch die Tage zählen, bis ich zum Eidbrecher würde… einen Ring wollte ich ihr doch geben – aber keine Handschelle!

Sie zuckte die Achseln und steckte nach kurzem Zögern den Ring in eine Tasche. Ich tat es ihr gleich. Während wir uns aufstellten um einer nach dem anderen nun wirklich die Globule zu verlassen, schoss mir plötzlich durch den Kopf, dass ich schon wieder – noch immer nicht aufgeflogen war. Unglaublich. Trotz dieser fatalen Dummheit die ich angestellt hatte, hatten sie noch immer nichts gemerkt. Gut. Dann sollte es wohl so sein. Ich zuckte unmerklich mit den Schultern, als ich mich ganz hinten in der Schlange einreihte. Vor mir stand Yolande.

Bevor sie als Vorletzte das Portal betrat, warf sie mir noch einen letzten Blick über die Schulter zu und ein schwaches, schmerzvolles Lächeln stahl sich kurz auf ihr bleiches Gesicht. Ich verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und blickte dann betreten zu Boden, da ich die Enttäuschung und den Schmerz ihn ihrem Blick kaum aushalten konnte. Hätte ich das mal besser nicht getan, denn dieses schmerzvolle Lächeln sollte das Letztes sein, was ich von ihr sah und mich viele einsame Nächte quälen.

Denn als ich als Letzter durch das Portal trat und nach einem kurzen Augenblick auf der anderen Seite auf meine Gefährten traf, da fehlte Yolande. Sie war einfach nicht da! Überrascht blickte ich mich um und fragte: „Wo ist Yolande?“ Alle sahen mich entgeistert an. „Keine Ahnung. Ist sie denn noch nicht hindurchgetreten?“ „Nein, sie war vor mir“ rief ich in einem beginnenden Anfall von Panik.
Rakorium trat umgehend durch das Tor wieder hindurch, während wir anderen hilflos herumstanden und uns suchend umblickten. Nur wenige Augenblicke später, stand er wieder vor uns. „Sie ist nicht da“ sagte er kopfschüttelnd.

„Das kann nicht sein!“ rief ich völlig aufgelöst, „wir alle sind einfach hindurchgetreten – und sie ist einfach verschwunden? WOHIN DENN?“ Alle waren ratlos. Nein, nicht alle. Ich hatte eine ziemlich genaue Vermutung, wer hinter diesem Verschwinden steckte. Und natürlich auch warum – und wofür! VERDAMMT? War das die Strafe für meinen Schabernack, für meine Hybris seine Kraft für meinen Spaß einzusetzen? Wollte er mir denn gar nichts gönnen? War ich nicht seinem Pfad schon vor meiner Weihe gefolgt und hatte seine Ideale mit jeder Faser meines Körpers gelebt. Gut zugegeben, der Herrin Rahja war ich fast ebenso zugetan – aber hatte Phex nicht selbst mit Rahja Aves gezeugt?

Meine Wut steigerte sich immer weiter, ich fluchte und tobte, bis Fendal und Omjaid mich schließlich zu Boden rangen, während Rakorium und Shafir den nahen Limbus nach einem Zeichen von Yolande durchsuchten, bis sie von einem Dämon vertrieben wurden. Zeitverschwendung. Hätte ich ihnen sagen können, doch ich war durch meinen Zorn abgelenkt. Ohja. Ich war wütend auf Phex, auf die Welt, vor allem aber auf mich selbst, dass ich mir und vor allem Yolande das eingebrockt hatte. Ich konnte nur hoffen, dass es ihr gut ging und sie irgendwo gelandet war, wo ich sie wiederfinden konnte – denn nun hatte ich eine neue Aufgabe gefunden: Meine verschwundene Yolande wiederfinden und das wieder gut machen, was ich in meinem Übermut vermasselt hatte.

Erst als ich mich sichtlich wieder beruhigt hatte, hatten mich Fendal und Omjaid losgelassen. Nun kam ich auf die Idee, den Beinahe-Ehering herauszuholen, den Rakorium für mich gemacht hatte: Den Göttern sei Dank, er war nicht zerbrochen. So bestand also Hoffnung Yolande lebend und gesund wiederfinden zu können.

Nur undeutlich hörte ich den Bericht Rakoriums, der im Limbus Fragmente einer temporalen Verzerrung gefunden hatte. Wieso denn eine temporale… Mit Zeitmagie hatten wir doch nichts zu tun gehabt, oder doch? Vor meinem geistigen Auge sah ich noch einmal den Moment, als ich das Artefakt benutzte, mit dem ich die Zeit anhielt um Pardona anzugreifen. Ji’An’Jazz hatte es erst vor wenigen Tagen in einem Gespräch erklärt, als ich ihn fragte, wieso dieser Tempus Stasis so viel mächtiger war, als der von Shafir. Der konnte in dem eingefrorenen Zeitraum nämlich keine Gegenstände oder Personen bewegen oder gar verletzen. Der Erzmagier hatte mir den Unterschied nie erklärt, da er nicht gewusst hatte, dass wir einen Magier mit diesem seltenen Zauber dabeihatten. Daher hatte er keine Erklärung für nötig gehalten. Dies war kein gewöhnliches Tempus-Stasis Artefakt gewesen, sondern ein Ritualgegenstand, den nur eine „Hand des Ssad’Navv“ erschaffen konnte, ein Kristallomant, der sein Leben Ssad'Navv verschrieben hatte.
Shafir hatte seinen Tempus Stasis benutzt, ich einen Zeitenstopp. Innerhalb einer Globule mit anderem Zeitablauf. Vielleicht war nicht (oder nicht nur) Phex auf mich sauer. Immer tiefer in Depression verfallend, hörte ich nur undeutlich einen Aufruhr im nahen Lager der Novadis. Irgendjemand diskutierte darüber durch gelassen zu werden. Ich sah genervt auf und erkannte einen Botenreiter der Blauen Pfeile, der mit den Wachen diskutierte und wild in meine Richtung zeigte. Zögernd ließ man ihn durch und er preschte, immer noch auf dem Pferd, auf mich zu:
„Eine Botschaft! Eine Botschaft für Ardo Askirson von Zollipantessa, Ritter des Feuers, Drachenrufer und Herzensbrecher!“

Ich winkte ihn zu mir. Er stieg ab und zog einen Umschlag aus seiner Botentasche. Der Botenreiter hielt zwar die Nachricht, machte aber noch keine Anstalten sie mir zu überreichen:
„Herr, bevor ich euch dies übergebe, muss ich etwas erklären. Diese Botschaft wurde uns vor zwei Monaten übergeben. Mit dem Auftrag, euch diese Botschaft zu übergeben, sobald ihr an diesem Datum durch das magische Portal tretet.“

Endlich gab er mir den Umschlag, den ich auch sofort aufriss. Darunter kamen mehrere Pergamentseiten zum Vorschein. Die Schrift erkannte ich sofort. Yolande!


„Liebster Ardo,

viel ist geschehen seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wie Du sicher schon bemerkt hast, bin ich nicht mit euch anderen im Verbotenen Tal gelandet. Nicht am selben Ort und, wie ich etwas später feststellen musste, auch nicht in der gleichen Zeit. Mich hat es durch den Willen der Götter - und vermutlich auch Satinavs - in meine alte Heimat verschlagen.“


Die Schrift endete und ich sah mir die nächste Seite an. Darauf war eine Bleistiftzeichnung einer alten, aber glücklich lächelnden Frau zu sehen, umgeben von Kindern und Enkelkindern. Mir blieb das Herz stehen. Wie weit in die Vergangenheit hatte es meine Yolande verschlagen?

Auf der nächsten Seite fuhr der Brief fort:


„Das Bild meiner Nachbarin hat zwar mit der Geschichte nichts zu tun, aber ich dachte das passt hier gut rein. So könnte ich heute aussehen! Ich weiß nicht was Du angestellt hast, aber ich bin mir sicher, Du bist an allem schuld. Denn wenn es jemand schafft Satinav zu verärgern, dann Du.

Ganz so weit hat es mich aber zum Glück nicht in die Vergangenheit geworfen. Ich bin zeitlich kurz vor meiner Abschlussprüfung an der Magierakademie hier angekommen. Also 1031 BF. Mein Ankunftsort lag auf der Konzilslinie, die ja direkt von Zze’Tha zur Dämonenzitadelle führt. Für den Rest machen die Geweihten sogenannte ‚Kharmische Kausalknoten‘ verantwortlich.
Nachdem ich meine Geschichte meiner Mutter und einem örtlichen Hesinde-Geweihten erläutert habe, beschlossen wir jede Art von Änderung in der Zeitlinie zu vermeiden. Mein früheres Ich, dass sich zum damaligen Zeitpunkt gerade auf seine Abschlussprüfung vorbereitete, hat und wird also nichts von mir erfahren. Sie ist nach Avestreu aufgebrochen, so wie ich damals aufgebrochen bin. Ich selbst habe mich der Rondra Kirche als Heilerin für einen geheimen Angriff auf Warunk angeschlossen. Inzwischen ist das nun schon Geschichte.

In Erinnerung blieb mir, dass die verklausulierte Formulierung des "Götterentscheids" dazu führte, dass ich keinen Antrag für einen Rahjabund bekam, was mich sehr enttäuschte. Ich bin mir nicht sicher, ob du dich da rauswinden wolltest oder die Formulierung im entscheidenden Moment einfach nur vermasselt hast. Daher liegt es nun an Dir, mir zu beweisen, dass es Dir mit dem Bund ernst ist.

Augenblicklich befinde ich mich auf einer heiligen Queste, doch anschließend werde ich dich kontaktieren, wie Du mich finden kannst. Solltest du dazu bereit sein, dann hinterlasse mir bei Spektabilität Maschdawa Patriloffder in der Halle des Lebens einen Zweig frische Weintrauben.

Nur Satinav kann uns trennen.
Yolande“



Einige Tage später.

Es stand dann recht schnell fest, dass sich die Gemeinschaft der Ritter der Elemente erst einmal trennen würde. Ein jeder von uns hatte Verpflichtungen, die während unseres Kampfes gegen Pardonas Intrigen brachgelegen hatten und die nun erfüllt werden wollten.

Ich hatte Yppolita von Gareth versprochen ihr einen ausführlichen Bericht von unseren Erlebnissen zu liefern. Also würde ich wohl zuerst nach Festum reisen. Danach würde ich versuchen herauszufinden, welcher Queste sich Yolande angeschlossen hatte – und natürlich wo sie sich nun aufhielt.

Auch einige meiner Gefährten hatten noch Aufgaben zu erledigen. So musste Fendal die Axt „Karfunkelspalter“ zurück zu den Trollen bringen und Shafir die Skreechuhaut zu Asch’na Gar, dem blonden Rastullah-Priester, der vermutlich ein Bastardsohn Leomars von Berg war. Bekommen hatten wir die zwar von dem Mystiker Abu Khômchras, aber keiner wusste wo der reisende Einsiedler zu finden sein würde.

Hesindian zog es nach Perricum zu seinem Drakoniterhort um alle seine ausführlichen Notizen als großen Reisebericht niederzuschreiben. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich ihm nicht diese stibitzen könnte, um mir den versprochenen Bericht an Yppolita zu erleichtern, doch das wäre ziemlich gemein gewesen, also sah ich davon ab.

Shafir zog es zurück an seine Heimatakademie um ebenfalls von seinen Erlebnissen zu berichten.

Auch Fendal und Omjaid wollten in ihre Heimat zurückkehren und ihre Familien wiedersehen. Daher würden wir zumindest den Weg bis Khunchom noch alle gemeinsam verbringen.

Kurze Zeit später verschwand die intuitive Kenntnis der Drachensprache aus unseren Köpfen, ebenso wie die Immunität gegen Feuer, die wir von der Purpurflamme erhalten hatten. Auch Fendals Sprachgeschick war von einem zum anderen Augenblick verschwunden, was ihn mitten in einer Unterhaltung mit einigen Novadis in eine recht unangenehme Situation brachte. Drachenkraft und so weiter. Aber Hesindian konnte ihn herausreden.

Rakorium hatte sich irgendwann mit einem Hinweis auf „dringende Geschäfte“ überstürzt und zerstreut, wie wir ihn von früher kannten, mit einem Transversalis-Teleport-Zauber verabschiedet. Ich konnte kaum glauben, dass dieser alte Zausel und der zielgerichtete Erzmagus, den wir in Zze’Tha kennen gelernt hatten, ein und dieselbe Person war.

Mein gemeiner Umgang mit Yolande hatte mich so mitgenommen, dass es mir kaum etwas ausmachte, dass es keine Zeit und Gelegenheit mehr gab, mit der ehemaligen Hairanin Djermila der Beni Achawi unseren Sieg zu feiern. Ihr Mann Rohul al'Acha und seine Bruderschaft würden zukünftig das Tal mit dem Übergang nach Zze’Tha bewachen und nur vertrauenswürdige Personen aus unserem Kreis oder mit einem entsprechend wichtigen Grund ungehindert passieren lassen.
Die große goldene Drachenstatue konnten wir leider immer noch nicht einschmelzen und mitnehmen. Zu schade.

Als ich nachts alleine auf einer Düne saß und mich im vollen Licht meines Herrn badete, ließ ich die letzten Tage, Wochen und Monate Revue passieren. Es war so viel geschehen. Wir hatten mehr gesehen und erlebt, als ich mir das je in meinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Von dem bekannt-paranoiden, gar als wahnsinnig verschrienen Erzmagus Rakorium Montagonus angestiftet, seine als Spinnerei abgetane Echsenverschwörung aufzudecken… und er hatte in fast allem Recht gehabt!

Plötzlich durchfuhr mich die Erkenntnis wie ein elektrisierender Schock: Wenn ein kleiner Phexgeweihter wie ich sich hinter der Fassade eines draufgängerischen, wurstfingerigeren Krieger so gut zu verstecken vermochte, dass selbst seine Freunde mit denen er Freud, Leid und Bett über Jahre teilte nichts davon merkten – welch eine Leistung war es vor den Augen der Welt den wahnsinnigen, trotteligen Magus zu mimen, dem härtesten Kaufmann der Welt ein um das andere Mal das Gold aus der Tasche zu ziehen, um damit Expeditionen zu finanzieren, deren Erfolg bestenfalls als „unwahrscheinlich“ deklariert werden musste? Wer verband wie kein Zweiter Magie, Glück und Heimlichkeit, führte als einer der ersten eine erfolgreiche Expedition zu Phexens Stern von Elem? Wer siedelte mit Beginn der Verschwörung, bei deren Beendigung meine Freund und ich geholfen hatten nach Khunchom über, um dort das Drachenei zu bewachen? Wer manipulierte alles und jeden, mit dem er in Kontakt kam, um subtil und unauffällig seine Ziele zu erreichen? Wer hatte stets den alten Feind des Grauen Gottes, die Echsen, genau im Blick? Wer durchschaute meine Absichten Yolande gegenüber und war verdattert und verärgert darüber, wie ich Dummkopf es nur so dämlich vermasseln konnte?

Darauf konnte es nur eine Antwort geben: Rakorium war der Mond, das geheime Oberhaupt der Phex-Kirche!